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# taz.de -- Minenarbeit in Afghanistan: Leben im Dunkeln
> In Afghanistan hängt eine Region am Steinkohleabbau und wenigen
> Hilfsgütern. Sie wollen Investitionen statt Almosen. Und sie kritisieren
> die Sanktionen.
Bild: Die Stollen in den Minen sind ungesichert, Unfälle kommen oft vor
Dara-i-Suf taz | Unter dem Geröll ist zunächst nur ein Fetzen Stoff
sichtbar, dann folgt ein Ellbogen, dann eine Schulter – die bewegt sich,
Ali Joumah atmet noch. Seine Kollegen sind unbeeindruckt. Dass ein Stollen
einstürzt, ist hier normal, in dieser Kohlemine in Dara-i-Suf in
Afghanistan. Als Joumah sich aus dem Geröll wieder an die Luft gekämpft
hat, ist seine Stirnlampe noch immer an. „Einen Moment, mir geht es gleich
wieder gut“, sagt er. Erst seit letzter Woche arbeitet der Zwölfjährige in
der Mine in Dara-i-Suf.
Auf der Landkarte ist es nicht weit, von Kabul nach Dara-i-Suf, etwa 260
Kilometer. Doch die Fahrt von der Hauptstadt dauert 19 Stunden – erst nach
Norden, dann zurück nach Süden, mehr staubige und schlammige Pisten als
Straßen. Sie winden sich durch die Bergtäler, zwischen über die Wege
hineinragenden Felsen und Bachläufe. Es ist still, über den Straßen kreisen
die Falken.
Über 400.000 Menschen leben in der Provinz Samangan, verteilt auf knapp 700
Gemeinden: In den meisten gibt es kein fließendes Wasser, keinen Strom,
keinen Telefonempfang. Nur Kohle, Schaufeln und Äxte. Das letzte bisschen
Hoffnung auf die Zukunft haben die [1][internationalen Sanktionen gegen
Afghanistan], eingeführt nach der Machtübernahme durch die Taliban im
Sommer 2021, zunichte gemacht. In den Minen arbeiten – neben Kindern – auch
Universitätsabsolventen, aus ganz Afghanistan kommen sie nach Dara-i-Suf,
für ein wenig Einkommen.
Nadir Shah ist 41 Jahre alt, sieht aber aus wie 61. Er ist eine Art
Sprecher der Gemeinschaft in Dara-i-Suf. Die Prioritäten des Westens im
Konflikt mit den Taliban versteht er nicht. „Dieser Kreuzzug für
Frauenrechte macht keinen Sinn. Die Erlasse der Taliban sind hier
irrelevant. Es gibt hier keine Parks, keine Sportstudios oder Büros, aus
denen man Frauen verbannen könnte.“ Und: „Deswegen hungert ihr uns aus –
damit Schulen wieder eröffnet werden, die es nicht gibt.“ Das erste, das
wichtigste Recht, sagt er, sei das auf Leben.
## Vor Hunger ohnmächtige Kinder
Shahs Bruder hat Pharmazie studiert, ist aber arbeitslos, genauso wie der
dritte der Brüder, der kaum lesen und schreiben kann. „Unsere Priorität
ist, dass hier eine Straße gebaut wird“, sagt der Pharmazeut. „Ohne Straß…
keine Wirtschaft und ohne Wirtschaft keine Entwicklung“, sagt er. Kinder
hier würden vor Hunger ohnmächtig. „Was sollen sie in der Schule lernen?“
Hayatullah Rahimi hat im Alter von sechs Jahren begonnen zu arbeiten. Mit
16 hat er bei einem Unfall ein Bein verloren, und später einen Arm, als
sein gebrochener Ellenbogen falsch heilte. Sein verbliebenes Bein kann er
nicht benutzten. Er humpelt auch nicht, dafür fehlen ihm die Krücken.
Stattdessen zieht er sich über den Boden vorwärts. Zwei, drei Menschen
würden hier jede Woche sterben, erzählt er: „Sie werden nicht einmal
gezählt. Wenn du Afghane bist, bist du nicht mal eine Nummer.“ Die einzigen
Toten, die hier je gezählt wurden, seien die Soldaten der Nato-Länder
gewesen.
Ein anderer Minenarbeiter ist Farhad Balki, 28 Jahre alt, Absolvent eines
Masterstudiengangs in internationalem Recht – wie viele seiner Kollegen hat
er einen Universitätsabschluss. Die meisten von ihnen hatten andere Jobs,
erzählen sie, vor der Machtübernahme durch die Taliban, vor den Sanktionen.
Einer arbeitete als Ingenieur, ein anderer als Tierarzt.
Einer erzählt: Er sei eigentlich Chirurg, habe aber seine Stelle verloren,
als seine Station in einer Klinik dichtmachen musste. Der Grund, sagt er,
sei die Blockade der Reserven der afghanischen Zentralbank durch die
Vereinigten Staaten, die gleichzeitig auch das gesamte afghanische
Bankensystem blockiert und den Zufluss von Geld aus dem Ausland in das von
den Taliban beherrschte Land verhindern soll.
## Sanktionen ohne Forderungen
Bei [2][Ashraf Ghani, Afghanistans Präsident] vor der Machtübernahme der
Islamisten, und seinen korrupten Kumpels habe der Westen nicht einen Cent
eingezogen, sagt Balkhi. Immer wieder werden Vorwürfe laut: Ghani habe,
beim Fall von Kabul an die Taliban, das Land mit Millionenbeträgen im ein-
bis dreistelligen Bereich im Gepäck verlassen.
„Aber das Schlimmste ist, dass diese Sanktionen zahnlos sind. Denn sie sind
nicht mit einer konkreten Forderung verbunden. Sollten die Schulen wieder
öffnen, würden die Amerikaner bestimmt sagen: Aber zuerst Neuwahlen, eine
neue Regierung. Warum sollten die Taliban also einlenken?“, fragt Balkhi.
„Sanktionen zu verhängen, ist viel einfacher, als zu bombardieren. Aber
Sanktionen sind eine Waffe, die nach den Genfer Konventionen verboten sein
sollte, weil sie absichtlich gegen Zivilisten gerichtet ist“, sagt er. „Die
Wahrheit ist, dass der Krieg hier nie ein Ende gefunden hat. Ihr seid nie
gegangen.“
Manche Rechtsexperten ziehen eine Parallele zwischen dem Einsatz nuklearer
Waffen und dem von Sanktionen. Wie die Folgen von Strahlenbelastung ziehen
sich die Konsequenzen der Sanktionen auf die Zivilbevölkerung durch die
künftigen Generationen.
## Andere Probleme als Bärte
Laila Naim ist vielleicht 34 Jahre alt, oder doch 36 – sicher weiß sie es
nicht, weil es hier keine Behörde gibt, die die Geburten der Bevölkerung
registriert. Mit ihrem 8-jährigen Sohn steht sie da, er ist etwa so groß
wie ein dreijähriges Kind. Um sie reihen sich andere Mütter, Schwestern,
Tanten, neben ihnen Kinder, knochig, schwach und kränklich. Ihre Kritik
richtet sie nicht nur an den Westen, sondern auch an die Taliban: „Haben
sie zwanzig Jahre lang gekämpft, nur um dann die Bärte der Männer zu
überprüfen“, den sich gläubige Muslime wachsen lassen sollen, fragt sie.
„Es gibt so viel dringlichere Probleme.“
Die Vereinten Nationen (UN) versuchen, mit Naturalien zu helfen, im Rahmen
eines Programms: „Essen für Arbeit“. Immer wieder verfahren die UN so, wenn
den Menschen zwar geholfen werden soll, aber nicht dem Regime, unter dem
sie leben. Die vor Ort vertretenen UN-Institutionen heuern lokale
Arbeitskräfte an, und bezahlen sie mit Mehl, Reis, Öl. „Als wären wir
Tiere, die nichts brauchen, außer einen Napf Essen“, sagt Ahmed Ari.
Er ist 31 Jahre alt, sein Job: Schlamm schaufeln, um eine ebene Fläche zu
schaffen, das lokale Äquivalent zum Bau von Teerstraßen. „Sanktionen und
Hilfe zur selben Zeit – was für eine Strategie ist das?“, fragt er. „Wir
wollen Investitionen, keine Spenden. Wir wollen Geschäftsmöglichkeiten,
keine Hilfsorganisationen.“
Doch auch ein „Bargeld für Arbeit“-Programm gibt es, betrieben von der
UN-Behörde für Entwicklung, die UNDP. Ungelernte Arbeiter bekommen 400
Afghani – etwa vier US-Dollar – pro Woche, erfahrene Arbeiter 700. Eine 120
Meter lange Wand sollen sie bauen, neben einer Schlucht und einer Straße,
um zu verhindern, dass bei starkem Regen die Straße – eher ein Weg aus Erde
– überschwemmt wird. 120 Meter – mehr wird nicht gebraucht, denn bald
darauf endet die Straße.
## Keine Arbeit, außer in den Minen
Einer der Projektverantwortlichen erklärt: So könne Afghanistan endlich –
Schritt für Schritt – unabhängig werden von Hilfszahlungen, die 75 Prozent
der Regierungsausgaben ausmachen. Und: Die Menschen erhalten eine Art
praktische Ausbildung. Erfahrene Arbeiter brechen Steine mit dem Hammer
klein. Ungelernte Arbeiter laden diese dann in Karren. 37 Männer arbeiten
hier, zehn Tage lang.
Sonst gibt es keine Arbeit in Dara-i-Suf, außer in den Minen. Manche von
ihnen sehen auf den ersten Blick aus wie Hügel, doch von innen sind sie
durchzogen von engen Gängen, gebaut ohne Stützen. In Dara-i-Suf führen alle
Wege zur Kohle, und alle Wege unter die Erde.
Die Arbeit ist hart: nach unten steigen, nach oben klettern, in Sandalen
und gelben Helmen, bei 40 Grad Hitze und minus 20 Grad Kälte. Zwischen den
Minen leben die Arbeiter, in Unterständen aus Lehm und Stroh, alte
sowjetische Fahnen dienen als Windschutz. In den Behausungen werden auch
Esel zusammengepfercht, die den Minenarbeitern als Lastentiere dienen. Ein
kleiner Junge, der von einem Esel herabsteigt, kennt das Wort „Schicht“
nicht – nur „Arbeit“.
Doch eine Überraschung hält Dar-i-Sufi bereit: Es gibt eine Schule – Jungen
lernen auf der rechten, Mädchen auf der linken Seite. Von allen von den
Taliban bisher erlassenen Dekreten, ist die [3][Untersagung von
weiterführender Bildung für Mädchen und Frauen] das wohl kontroverseste.
Viele Afghanen glauben: Das Verbot ist nicht aus der Ideologie der Taliban
geboren, sondern aus Pragmatismus – dass Frauen und Mädchen wieder zur
Schule oder auf die Universität gehen dürfen, sei ein gutes Druckmittel für
Verhandlungen. Sogar die Töchter von Suhail Shaheen, Sprecher der
Islamischen Emirats Afghanistan, besuchen in Katar das College.
## Marmelade statt Wasser
Sayed Zahir, Gouverneur von Dara-i-Suf und Hazara – eine von den Taliban
diskriminierte schiitische Minderheit Afghanistans – sagt: „Wer arm ist,
hat keine Stimme. Man hat weder Zeit noch Energie dafür.“ Deswegen brauche
man eigentlich die UN, die Zivilorganisationen. Stattdessen, moniert er,
brächten diese nur vorgefertigte Projekte mit:
„Ich sage ihnen: Wir brauchen Trinkwasser. Sie sagen, es gibt nur eine
Förderung dafür, Witwen beizubringen, wie sie Biomarmelade herstellen.“ In
seiner Hand hält er einen Apfel, gespendet durch das World Food Programm,
und fragt: „Was bringt mit das?“ Dara-i-Suf, sagt er, sei eine ideale
Umgebung für Obstplantagen. „Ich brauche nur einen Baum. Sonst nichts.“
Aus dem Englischen von Lisa Schneider.
26 Jun 2023
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## AUTOREN
Francesca Borri
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