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# taz.de -- Untersuchungsausschuss Neukölln: Die Überraschung liegt im Detail
> Bei der letzten Sitzung vor der Sommerpause treten die ersten Polizisten
> im Neukölln-Untersuchungsausschuss in den Zeugenstand.
Bild: Prozessbeginn im Neukölln-Komplex im August 2022
Berlin taz | Zu wenig Personal, zu wenig Zeit, um den gesamten Zeitraum der
rechtsextremistischen Straftatenserie zu untersuchen: Die im Mai 2019
eingerichtete Sonderermittlungsgruppe „Bao Fokus“ war mitnichten so gut
ausgestattet, wie es der damalige Innensenator Andreas Geisel (SPD) stets
öffentlich behauptet hatte. Der Erwartungsdruck aus dem politischen und
medialen Raum, Erkenntnisse zu liefern, sei immens gewesen, sagte der
frühere Leiter der „Bao Fokus“, Andreas Majewski, am Freitag im
Untersuchungsausschuss zur rechtsextremen Anschlagsserie in Neukölln.
Aus Ressourcengründen habe die „Fokus“ ihre Untersuchungen aber auf die
Zeit ab 2016 beschränken müssen. „Man musste einen zeitlichen Schlussstrich
ziehen“, sagt er. Tatsächlich reicht die rechtsextreme Anschlagsserie bis
2009 zurück.
Es ist die letzte Sitzung des [1][parlamentarischen
Untersuchungsausschusses] vor der Sommerpause. Der Ausschuss befasst sich
mit dem Vorgehen der Ermittlungsbehörden im Zusammenhang mit der
rechtsextremistischen Straftatenserie in Neukölln. Die Vernehmung der von
den Anschlägen Betroffenen ist nunmehr abgeschlossen, erstmals sind
Vertreter der Polizeibehörde als Zeugen geladen.
Der Zuschauerraum ist gut gefüllt. Auch Bianca Klose verfolgt das
Geschehen. Die Leiterin der Mobilen Beratungsstelle gegen Rechtsextremismus
(MBR) [2][war schon Ende 2022 als Sachverständige im
Untersuchungsausschuss] gehört worden.
## Wissensverlust durch Fluktuation
Die Vernehmung des Leiters der Bao Fokus, Majewski, kommentiert Klose mit
den Worten: „Ich habe nichts gehört, was ich nicht schon wusste.“ Aber
Majewski habe auf einen fatalen Umstand hingewiesen, den die MBR immer
wieder beklage: dass durch die große personelle Fluktuation bei den
Ermittlungeinheiten wichtiges Wissen über rechtsextreme Zusammenhänge und
Netzwerke verlorengehe.
Majewski sagte es im Ausschuss so: Er hätte sich Ermittler mit langjähriger
Erfahrung in diesem Bereich gewünscht. „Dieser Wissenstransfer wäre bei den
Ermittlungen von immenser Bedeutung gewesen“, sagt er. Auf das
Neonazi-Netzwerk „NW-Berlin“ sei er erst von der Linken-Abgeordneten Anne
Helm hingewiesen worden.
Unter dem Label „NW-Berlin“ hatten Neukölner Rechtsextremisten seit 2005 in
Abstimmung mit Rechtsextremisten in anderen Berliner Bezirken agiert,
darauf hatte auch Klose als Sachverständige im Untersuchungsausschuss
hingewiesen. Eine frühere Strafverfolgung, so Kloses Fazit, hätte die
späteren Taten verhindern können.
Ganz erfolglos war die Bao Fokus trotz Ressourcenknappheit und zeitlicher
Beschränkung aber nicht. Majewski führt das auf die große Motivation seiner
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zurück: „Es gibt kaum etwas Sinnhafteres,
als Rechtsextremismus zu verfolgen“, sagt er. Der gesamte Ermittlerstab der
Gruppe RESIN sei seinerzeit in die „Fokus“ eingegangen. Bei der RESIN
(Ermittlungsgruppe Rechtsextremistisch motivierte Straftaten in Neukölln)
waren die Ermittlungen seit 2017 gebündelt gewesen.
Insgesamt 63 zum Neukölln-Komplex zählende Straftaten hatte die „Fokus“
einer erneuten kriminalistischen Betrachtung unterzogen, darunter 16
Brandstiftungen, verübt in der Zeit von Juni 2016 bis März 2019, sagte
Majewski. Zudem waren rund 2.500 seit 2013 im Südosten Berlins begangene
Brandstiftungen überprüft worden. Das Ergebnis: sieben weitere
Brandstiftungen hätten dem Neukölln-Komplex zugeordnet und die Taten in
zwei Serien zusammengeführt werden können. Serie bedeute, dass es einen
zeitlichen Zusammenhang gebe.
## Kritik an der Staatsanwaltschaft
Kritik übte Majewski in diesem Zusammenhang an der damaligen Arbeit der
Staatsanwaltschaft: Man hätte sich von dieser ein anderes Vorgehen bei der
Strafverfolgung gewünscht. Schon bei der RESIN sei auf Unverständnis
gestoßen, dass die Taten von der Staatsanwaltschaft nicht wie von der
Polizei als Serie eingestuft, sondern als Einzelfälle betrachtet und auch
eingestellt worden seien. Auch auf angeforderte Observationsmaßnahmen habe
die Staatsanwaltschaft teilweise erst Monate später reagiert.
Im Wesentlichen sagte Majewski am Freitag das, was im Abschlussbericht der
„Fokus“ steht. Der Bericht war im August 2020 dem Innenausschuss vorgelegt
worden, [3][eine Kurzfassung ist im Internet veröffentlicht].
Interessant, weil in dieser Deutlichkeit neu, waren Majewskis Ausführungen
zu „Casa“, einem computergestützten Fallbearbeitungssystem der Polizei.
Ermittlungsergebnisse können dort zusammengeführt werden. Schon Monate vor
dem Anschlag, der im Februar 2018 auf den Carport des Linken-Politikers
Ferat Kocak verübt wurde, war das Anwesen von Tatverdächtigen ausspioniert
worden. Obwohl sie dabei observiert worden waren, wurden die Daten nicht in
„Casa“ eingespeist, und es wurde dort auch kein „Fall“ angelegt. „Es …
keinen, der das konnte“, wird Majewski am Freitag deutlich.
Als Grund nannte er ein Schulungsdefizit, „auch heute ist das noch nicht
flächendeckend möglich“. Im Abschlussbericht der „Fokus“ liest sich das…
„Dieses Versäumnis führte dazu, dass drei Hinweise auf den späteren
Geschädigten K. nicht zusammengeführt werden konnten (…) und keine
gefahrenabwehrenden Maßnahmen ergriffen wurden.“
Grund für Entwarnung sieht Majewski mit Blick auf die Neuköllner
Straftatenserie auch aktuell nicht. Er sei überzeugt, dass eine Gruppe aus
dem rechtsextremistischen Spektrum „regelmäßig und wahrscheinlich nach wie
vor“ Straftaten begehe, sagte er am Freitag. Den Wissensverlust bei
Ermittlern durch Fluktuation bedingt, den Majewski im Ausschuss beklagte,
verkörpert er allerdings auch selbst. Im LKA leitet er inzwischen das
Dezernat „Polizei- und Korruptionsdelikte“. Die „Bao Fokus“ wurde 2021
aufgelöst.
Vor Majewski war der Kriminaldirektor Kristian Grüning im Ausschuss befragt
worden. Grüning war Büroleiter der Geschäftsstelle der sogenannten
Sonderkommission: Der frühere Generalbundesanwalt Herbert Diemer und die
frühere Polizeipräsidentin von Eberswalde, Uta Leichsenring, hatten von
Geisel 2020 den Auftrag bekommen, den offenen Fragen im Ermittlungskomplex
um die Anschlagsserie nachzugehen.
Ihr [4][Fazit im Abschlussbericht vom Mai 2021]: Die Betroffenen hätten das
Vertrauen in die Sicherheitsbehörden verloren. Tiefgreifende Versäumnisse
seien der Polizei aber nicht vorzuwerfen.
Grüning beschrieb seine Aufgabe als Büroleiter so: Er habe die Akten
besorgt, Diemer und Leichsenring zum Teil bei Terminen begleitet und auch
an deren Abschlussbericht durch Zulieferung von „Textbausteinen“
mitgewirkt. Durch Nachfragen des [5][Innenpolitikers der Linken, Niklas
Schrader], stellte sich am Freitag heraus, dass Grüning seinerzeit
gleichzeitig die Kontrollstelle für den Verfassungsschutz in der
Innenverwaltung geleitet und damit direkt beim damaligen
Innenstaatssekretär Torsten Akmann (SPD) angesiedelt war. Ob er keinen
Interessenskonflikt gesehen habe, fragte Schrader. „Nein, nein“,
versicherte Grüning.
## Dubiose Doppelfunktion
Die Doppelfunktion spreche dafür, dass Grüning als verlängerter Arm des
Staatssekretärs fungiert und als eine Art Aufpasser in der Sonderkommission
fungiert habe, vermutet Schrader nach der Sitzung im Gespräch mit der taz.
Mit der viel gepriesenen Unabhängigkeit der Sonderkommission sei es
offenbar doch nicht so weit her gewesen, wie damals von Geisel behauptet
worden war.
Anders als der Untersuchungsausschuss, der immer noch auf Aktenteile von
Ermittlungsbehörden und Gerichten wartet, hatte Grüning offenbar keine
Probleme, diese für Diemer und Leichsenring zu beschaffen. Nach der
Anforderung habe es „in der Regel einige Wochen bis wenige Tage“ gedauert,
bis man die Akten auf dem Tisch gehabt habe, sagte Grüning. Kommentar von
Niklas Schrader: „Beeindruckend!“
Die Fortsetzung folgt im September. Als nächste Zeugen nach der Sommerpause
sind der Leiter des Landeskriminalamts, Christian Steiof und der Leiter der
EG RESIN vorgesehen. [6][Er hoffe, von den Behörden bis dahin endlich den
gesamten Aktenbestand] zu haben, sagte der Ausschussvorsitzende Vasili
Franco (Grüne) am Montag zur taz.
26 Jun 2023
## LINKS
[1] /Rechter-Terror-in-Berlin-Neukoelln/!5894581
[2] /Neukoelln-Untersuchungsausschuss/!5898307
[3] https://www.berlin.de/sen/inneres/presse/weitere-informationen/kurzfassung-…
[4] https://www.berlin.de/sen/inneres/presse/weitere-informationen/abschlussber…
[5] /Wahlen-in-Berlin/!5909532
[6] /Rechtsextremismus-in-Berlin/!5934558
## AUTOREN
Plutonia Plarre
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