# taz.de -- Verschärfung der Arbeitsbedingungen: Die Zitrone hat noch Saft | |
> Mehr Arbeit, die in weniger Zeit von weniger Leuten erledigt werden muss | |
> – das führt zu Stress und Wut. Trotzdem glauben viele: Da geht noch mehr. | |
Bild: Da geht doch noch was, oder? | |
Wer nachspüren möchte, wohin sich hierzulande die Arbeitsbedingungen | |
entwickeln, hat als Indikatoren besonders [1][Pflege]-, Erziehungs- und | |
Dienstleistungsbranche zur Verfügung. Hier staut sich der meiste Druck, der | |
größte Frust, der unmenschlichste Stress im scheinbar arbeitsrechtsfreien | |
Raum. | |
Jede von uns hat mit diesen Berufszweigen zu tun und kann sich selbst ein | |
Bild machen. Zum Beispiel, wenn der einst als zuverlässig angesehene | |
Lieferdienst UPS beim Autor die wertvolle Ware (Ja, ich bin ein Schwein, | |
aber die gab es nun mal nicht im Laden) lapidar vor die Briefkästen knallt, | |
wo er, wie im Hause üblich, von den Rabennachbarn im Nu geklaut wird. | |
Doch so schön es ist, für alle erlittene Unbill schnell und einfach | |
Schuldige zu finden: Die Wut auf die Boten ist hier leider nicht | |
angebracht; die Puste sollte man sich lieber für deren „Arbeitgeber“ | |
sparen. Der Bote ist quasi nur der Bote für die Zustände, in denen er | |
arbeiten muss. | |
So sei [2][der Film „Sorry We Missed You“] des englischen Regisseurs Ken | |
Loach, in dem das verzweifelte Strampeln eines solchen Paketfahrers in | |
einem Hamsterrad aus Stacheldraht gezeigt wird, den verarschten UPS-, DPD- | |
oder DHL-Kunden hier wärmstens als Anschauungsmaterial über die | |
Arbeitsverhältnisse im Spätkapitalismus empfohlen. | |
## Letztlich kontraproduktiv | |
Dem Übel zugrunde liegt [3][die sogenannte Arbeitsverdichtung], ein | |
perfider Arbeitgebereuphemismus für die Intensivierung der Arbeit, was | |
wiederum nichts anderes heißt als: mehr Arbeit, die in weniger Zeit von | |
weniger Leuten erledigt werden muss. Diese Gemengelage aus | |
Personalknappheit, schlechter Bezahlung und Zeitdruck führt bei den | |
Arbeitenden zu psychischen und auch körperlichen Problemen. | |
Die sich letztlich natürlich auch kontraproduktiv auf die Leistung der | |
jeweiligen Mitarbeiterin und des Gesamtbetriebes auswirken: Das Paket liegt | |
im Hausflur, die übermüdete Ärztin sägt das falsche Bein ab, die | |
Sportlehrerin ist krankgeschrieben, die Kinder gehen aus dem Leim. Das | |
klingt in der Kausalität so einfach, und doch agieren viele Verantwortliche | |
noch immer nach dem Motto: Diese Zitrone hat noch Saft. In der Politik ist | |
seit ein paar Jahren eine Art „Anti-Stress-Verordnung“ angedacht, aber | |
„angedacht“ ist auch nur die ätherische kleine Schwester von | |
„aufgeschoben“. | |
Kein Wunder, dass angesichts der allgemeinen Unzufriedenheit die Chefs | |
ziemlich schlecht wegkommen. Die [4][Studie State of the Global Workplace | |
2023] des Beratungsunternehmens Gallup, in deren Rahmen 120.000 | |
Arbeitnehmer aus 145 Ländern zu ihren Arbeitsbedingungen befragt wurden, | |
ergibt ein mieses Zeugnis für die Führungskultur. | |
Daraus folgt wiederum eine zunehmend geringer werdende emotionale Bindung | |
an den Arbeitgeber. In Deutschland ist diese auf dem schwächsten Stand seit | |
2012; allerdings befinden wir uns damit sogar noch im europäischen | |
Spitzenfeld, denn global gesehen sind die Werte in Europa überhaupt am | |
niedrigsten. Das mag auch in der Mentalität begründet liegen, denn in | |
Deutschland hasst man Veränderungen. | |
## „Stress und Wut“ | |
Einige wenige Emotionen sind den Arbeitnehmern immerhin noch geblieben, und | |
zwar laut Gallup-Forschungsleiter Marco Nink vor allem „Stress und Wut“, | |
zwei Empfindungen, die nicht nur dem Arbeitsklima, sondern auch wieder der | |
Gesamtarbeitsleistung abträglich sind. Eine erhöhte Fluktuation der | |
unzufriedenen Belegschaft ist ebenfalls die Folge. | |
Wo jedoch die Führung auf die emotionalen Bedürfnisse der Arbeitenden | |
eingeht, wird weniger Stress und eine stärkere Bindung an den Arbeitgeber | |
empfunden. Eine Obstschale für die Belegschaft ist schon mal gut, Lob und | |
Anerkennung noch besser. | |
14 Jun 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Pflegenotstand-in-Deutschland/!5938086 | |
[2] /Ken-Loachs-Film-Sorry-We-Missed-You/!5657039 | |
[3] /Arbeit-Selbstachtung-und-Demokratie/!5774633 | |
[4] https://www.gallup.com/workplace/349484/state-of-the-global-workplace.aspx | |
## AUTOREN | |
Uli Hannemann | |
## TAGS | |
Prekäre Arbeit | |
Arbeitswelt | |
Stress | |
Kapitalismus | |
Kolumne Zukunft | |
Arbeitszeit | |
Krankenhausreform | |
Saisonarbeitskräfte | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Religion in der Zukunft: Zum Lachen in die Kirche | |
In der Zukunft hat sich der Glaube verbessert: Niemand wird getauft, | |
gesegnet, beschnitten oder verbrannt. Wer beten will, tut das zu Hause. | |
Vier-Tage-Woche auf dem Kirchentag: Am fünften Tage sollst du ruhen | |
Viele junge Menschen wollen nicht in Vollzeit arbeiten, Gewerkschaften | |
fordern die Viertagewoche. Auch die Kirche spricht über die Zukunft der | |
Arbeit. | |
Personalmangel im Krankenhaus: Jede*r Vierte will reduzieren | |
Die Pandemie hat Intensivpflegekräfte in Teilzeit und Berufswechsel | |
getrieben. Eine aktuelle Umfrage zeigt: Die Unzufriedenheit hält an. | |
Arbeitsbedingungen bei der Ernte: So wird Saisonarbeit ausgebeutet | |
Eine Studie berichtet von unwürdigen Arbeitsbedingungen in deutschen | |
Erdbeer- und Spargelbetrieben. Auch die EU-Kommission erhebt Vorwürfe. |