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# taz.de -- Neues Selbstbestimmungsgesetz: Trans im Verteidigungsfall
> Russlands Krieg gegen die Ukraine wirkt bis in den Referentenentwurf für
> das neue Selbstbestimmungsgesetz hinein. Leider auch hier natürlich
> negativ.
Bild: In Kriegszeiten leidet auch die Gleichberechtigung: Camouflage-Muster ein…
Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat unerwartete
Kollateralschäden. So wurde in [1][den Referentenentwurf für das
Selbstbestimmungsgesetz] eine wenig diskutierte Regelung aufgenommen: die
Diskriminierung von trans Frauen und nichtbinären Menschen im Kriegsfall.
Der von der Bundesregierung am 9. Mai 2023 vorgelegte Gesetzentwurf soll es
trans, inter und nichtbinären Menschen ermöglichen, ihren
Geschlechtseintrag und Vornamen ohne psychiatrische Gutachten und
langwierige Gerichtsverfahren zu ändern.
Paragraf 9 [2][des Gesetzes über die Selbstbestimmung] in Bezug auf den
Geschlechtseintrag (SBGG) sieht vor, dass für die Dauer eines Spannungs-
oder Verteidigungsfalles die amtliche Zuordnung zum männlichen Geschlecht
bestehen bleibt. Konkret bedeutet das: Eine trans Frau oder eine
nichtbinäre Person wird zum „Dienst mit der Waffe“ verpflichtet, wenn sie
ihren Geschlechtseintrag weniger als zwei Monate vor dem Eintritt des
Spannungs- oder Verteidigungsfalles geändert hat.
Laut dem Bundesverband Trans* e. V. (BVT*) scheint diese Regelung aus der
Befürchtung heraus entstanden zu sein, dass im Spannungs- oder
Verteidigungsfall cis Männer eine Änderung ihres Geschlechtseintrags
missbrauchen könnten, um sich der Wehrpflicht zu entziehen.
## Gleichbehandlung auch beim Kriegsdienst
Dabei werde jedoch übersehen, dass es in Deutschland das Recht gibt, den
Kriegsdienst aus Gewissensgründen zu verweigern (Art. 4 Abs. 3 GG). Im Jahr
1954, zwischen dem Indochina- und dem Algerienkrieg, schrieb der
französische Schriftsteller Boris Vian das Lied „Le Déserteur“, das Wolf
Biermann später auf Deutsch sang. In der Zeit der französischen
Kolonialkriege hatten Vian und sein Deserteur etwas Heldenhaftes.
In einem Angriffskrieg sieht das Bild des Pazifisten zum Teil anders aus.
Dennoch ist es, so der BVT*, gesellschaftlich weniger stigmatisierend, den
Kriegsdienst aus Gewissensgründen zu verweigern, als den Geschlechtseintrag
zu ändern. Schon aus diesem Grund erscheint es unwahrscheinlich, dass ein
Kriegsdienstverweigerer den Weg der Transgeschlechtlichkeit wählt. Sollte
es doch einmal eine Ausnahme geben, so wäre dies ein Hinweis darauf, wie
schrecklich es für Männer sein kann, sich gezwungen zu sehen, militärisch
zu dienen.
Als in der Ukraine bekannt wurde, dass Frauen zum Militärdienst eingezogen
werden sollten, war die Empörung groß. Zwar sollten sie nicht an die Front,
aber als Ärztinnen und Krankenschwestern sollten sie sich um Verwundete
kümmern oder in Berufen einspringen, in denen die Männer wegen des
Kriegseinsatzes fehlten – etwa in Bäckereien oder der Buchhaltung. In einer
Online-Petition war von „Missbrauch von Frauen“ die Rede. Aber ist es nicht
ein queerfeministisches Anliegen, dass alle Geschlechter gleichbehandelt
werden?
## Kriegsdienst geschlechtsunabhängig gestalten
Zudem ist zu betonen, dass Paragraf 9 SBGG eine Ungleichbehandlung von
trans Frauen und nichtbinären Menschen einerseits und trans Männern
andererseits darstellt. Im Vergleich zu trans Männern, die ihren
Geschlechtseintrag auch im Spannungs- oder Verteidigungsfall problemlos
ändern könnten, würden trans Frauen und nichtbinäre Personen durch die
Regelung des Paragrafen 9 benachteiligt. Dies ist eine klare
Ungleichbehandlung, die dem Grundsatz der Gleichbehandlung aller
Geschlechter widerspricht.
Eine mögliche Lösung könnte darin bestehen, den Kriegsdienst mit der Waffe
geschlechtsunabhängig zu gestalten. Damit würde sich Paragraf 9 erübrigen.
Statt nur Personen mit männlichem Geschlechtseintrag zur Landesverteidigung
heranzuziehen, könnte die Wehrpflicht auf alle Geschlechter ausgedehnt
werden. Dies würde Diskriminierung verhindern und den
Gleichbehandlungsgrundsatz stärken.
Generell muss sich Deutschland in vielen Bereichen Gedanken darüber machen,
wie es mit Menschen umgehen will, deren Geschlechtseintrag divers oder leer
ist. Von der Anerkennung der Elternschaft über Regelungen im Sport und im
Strafvollzug bis hin zu Quotenregelungen.
## Trans Personen überdurchschnittlich von Armut betroffen
Ein Beispiel für eine fortschrittliche Gesetzgebung in diesem Bereich ist
Argentinien. Seit 2012 gibt es ein Selbstbestimmungsgesetz, das die
Änderung des Geschlechtseintrags ohne ärztliches Gutachten,
Hormonbehandlung oder Gerichtsverfahren ermöglicht. Darüber hinaus hat die
argentinische Regierung eine Quotenregelung für trans Personen im
öffentlichen Dienst ab 2021 eingeführt.
Das Gesetz legt eine Mindestquote von einem Prozent der staatlichen
Arbeitsplätze für Transvestiten, Transsexuelle und Transgender fest. Um
dies zu gewährleisten, müssen alle staatlichen Institutionen, Ministerien
und nichtstaatlichen öffentlichen Einrichtungen bei allen regulären
Einstellungsverfahren eine bestimmte Anzahl von Arbeitsplätzen schaffen,
die ausschließlich mit Transvestiten, Transsexuellen und Transgendern
besetzt werden. Wenn Bewerber:innen keinen Sekundarschulabschluss
haben, können sie unter der Bedingung eingestellt werden, dass sie diesen
nachholen.
So betrachtet ist der Referentenentwurf für das SBGG noch sehr
zurückhaltend. Eine Studie im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des
Bundes aus dem Jahr 2010 hat gezeigt, dass trans Personen
überdurchschnittlich häufig von Arbeitslosigkeit und Armut betroffen sind,
häufig unter ihrer Qualifikation arbeiten und im Arbeitsleben massiven
Diskriminierungen ausgesetzt sind. Das fängt bei den Karrierechancen an und
geht über Ablehnung und Belästigung bis hin zu Gewalt.
Der [3][Referentenentwurf für das SBGG stellt zwar einen deutlichen
Fortschritt gegenüber den bisherigen Regelungen dar]. Mit ihm entfällt die
Notwendigkeit von externen Gutachten, Gerichtsverfahren und ärztlichen
Attests für die amtliche Änderung der Vornamen und des Geschlechtseintrags.
Doch es bedarf dringend noch der Verbesserung. Dazu gehört die ersatzlose
Streichung des Paragrafen 9 im Spannungs- und Verteidigungsfall.
13 Jun 2023
## LINKS
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[3] /Nachfolge-des-Transsexuellengesetzes/!5924999
## AUTOREN
Jayrôme C. Robinet
## TAGS
Trans
Selbstbestimmung
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Wehrdienst
Feminismus
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
Kolumne Unisex
Schwerpunkt LGBTQIA
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