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# taz.de -- Prüfung des Bundesverfassungsgerichts: Gerechtigkeit oder Dammbruch
> Das Bundesverfassungsgericht prüft, ob die Wiederaufnahme von
> Mordverfahren nach Freisprüchen zulässig ist. Das Gesetz ist von 2021.
Bild: Das Verfahren der ermordeten Frederike von Möhlmann im Gerichtssaal des …
Karlsruhe taz | Darf ein freigesprochener Beschuldigter wegen derselben Tat
erneut vor Gericht gestellt werden – weil es neue Beweise gegen ihn gibt?
Der Bundestag hat dies 2021 aufgrund eines tragischen Einzelfalls
zugelassen. Doch das Gesetz könnte grundgesetzwidrig sein. An diesem
Mittwoch verhandelte das Bundesverfassungsgericht.
Die 17-jährige Schülerin Frederike von Möhlmann war 1981 vergewaltigt und
ermordet worden. Verdächtig war der damals 22-jährige Ismet H. Doch das
Landgericht Stade sprach ihn 1983 rechtskräftig frei.
Die DNA-Analyse einer Sekretspur vom Tatort deutete 2012 aber doch auf H.
als Täter hin. Wegen des Freispruchs konnte er allerdings nicht erneut
angeklagt werden. Hans von Möhlmann, der Vater des Opfers startete deshalb
eine Petition, die von rund 180.000 Menschen unterzeichnet wurde. Ende 2021
griff die damalige Große Koalition die Forderung auf und änderte die
Strafprozessordnung. Die Wiederaufnahme zulasten eines Freigesprochenen ist
jetzt auch möglich, wenn „neue Beweismittel“ auftauchen und nun „dringen…
Gründe“ für eine Verurteilung sprechen.
## Verstoß gegen die Grundgesetz-Garantie
Ismet H. wurde sofort verhaftet, die Staatsanwaltschaft beantragte eine
Wiederaufnahme des Mordverfahrens, das Oberlandesgericht Celle hielt den
Antrag für zulässig. H.s Anwalt Johann Schwenn erhob jedoch
Verfassungsbeschwerde. Das neue Gesetz verstoße gegen die
[1][Grundgesetz-Garantie], dass niemand wegen derselben Tat zwei Mal
verfolgt werden darf.
Einen ersten Erfolg erzielte der Anwalt im Sommer 2022. Das BVerfG ordnete
an, dass H. bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde aus der
U-Haft entlassen wird. In der mündlichen Verhandlung vor dem Zweiten Senat
des Bundesverfassungsgerichts lebte an diesem Mittwoch die alte
Regierungskonstellation noch einmal auf. SPD und CDU/CSU verteidigten ihr
Gesetz. Grüne und FDP unterstützten die Verfassungsbeschwerde dagegen.
Für die SPD sprach die Rechtsprofessorin Elisa Hoven: „Das Grundgesetz
kennt kein absolutes Verbot der Wiederaufnahme zulasten von
Freigesprochenen.“ Vielmehr müsse das Prozess-Grundrecht wie alle
Grundrechte mit anderen Verfassungswerten abgewogen werden. Hier habe der
Anspruch der Angehörigen auf eine effiziente Strafverfolgung Vorrang,
betonte Hoven.
## Urteil wird in einigen Monaten verkündet
Das Gesetz sei auch verhältnismäßig, weil die Wiederaufnahme zulasten eines
Freigesprochenen auf Mord, Völkermord und ähnlich schwere Delikte
beschränkt sei, so [2][Rechtsprofessor Michael Kubiciel] für die CDU/CSU.
Er verwies darauf, dass es bereits seit Jahrzehnten möglich sei, ein
Verfahren nach einem Freispruch neu aufzurollen, etwa wenn das Urteil auf
einem Meineid beruhte oder wenn der Freigesprochene die Tat später doch
gesteht. „Soll das nun plötzlich auch alles verfassungswidrig sein?“,
fragte Kubiciel.
Für Grüne und FDP warnte Rechtsprofessor Erol Pohlreich: „Wenn wir hier die
Suche nach der Wahrheit absolut setzen, dann sprechen wir morgen auch über
eine Relativierung des Folterverbots.“ Das Urteil wird in einigen Monaten
verkündet.
24 May 2023
## LINKS
[1] /Erfolgreiche-Verfassungsbeschwerde/!5925521
[2] /Urteil-zu-NS-Vergleichen/!5611192
## AUTOREN
Christian Rath
## TAGS
Bundesgerichtshof
Verjährung
Kriminalität
Schwerpunkt Grundgesetz
Freispruch
Bundesverfassungsgericht
Grundrechtereport
Schwerpunkt Rassismus
Gefängnis
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