# taz.de -- Bundesverfassungsgericht: Rechtsfrieden vor Gerechtigkeit | |
> Karlsruhe verbietet die Wiederaufnahme von Verfahren gegen | |
> freigesprochene Mörder:innen. Ein mutmaßlicher Täter bleibt unbehelligt. | |
Bild: Karlsruhe hat entschieden: Eine erneute Anklage für dieselbe Tat ist ver… | |
KARLSRUHE taz | Auch wenn es neue Beweise gibt, darf ein freigesprochener | |
Mordverdächtiger nicht erneut angeklagt werden. Dies entschied an diesem | |
Dienstag der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts. Die | |
Richter:innen erklärten eine [1][entsprechende Gesetzesänderung der | |
Großen Koalition von Ende 2021] für nichtig. | |
Anlass des Gesetzes war der [2][Mord an der 17-jährigen Schülerin Frederike | |
von Möhlmann] im Jahr 1981. Verdächtig war der damals 22-jährige Ismet H. | |
Doch das Landgericht Stade sprach ihn 1983 rechtskräftig frei. Allerdings | |
deuteten 2012 neue DNA-Analysen einer alten Sektretspur doch auf H. als | |
Täter hin. Wegen des Freispruchs war jedoch kein neues Verfahren möglich. | |
Daraufhin startete Hans von Möhlmann, der Vater des Opfers, eine Petition, | |
die von rund 180.000 Menschen unterzeichnet wurde. Die große Koalition | |
griff das populäre Anliegen auf und [3][änderte Ende 2021 die | |
Strafprozessordnung]. Auch nach einem rechtskräftigen Freispruch ist | |
seither eine neue Anklage möglich, wenn dank neuer Beweismittel eine hohe | |
Wahrscheinlichkeit der Verurteilung besteht. Diese Wiederaufnahme nach | |
einem Freispruch sollte allerdings nur bei vier besonders schweren Delikten | |
möglich sein: bei Mord, Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen | |
die Menschlichkeit. | |
Ismet H. wurde kurz darauf verhaftet, die Staatsanwaltschaft beantragte | |
eine Wiederaufnahme des Verfahrens gegen ihn. Doch nun erhob Ismet H. | |
Verfassungsbeschwerde – gegen das neue Verfahren und gegen das neue Gesetz. | |
Schon im Sommer 2022 hatte sein Verteidiger Johann Schwenn mit einem | |
Eilantrag Erfolg und Ismet H. konnte das Gefängnis verlassen. Nun hat der | |
gebürtige Kurde auch in der Hauptsache obsiegt. Er muss keine neue Anklage | |
mehr fürchten und wird stattdessen entschädigt. | |
## Karlsruhe betont das Verbot der Mehrfachverfolgung | |
Das Bundesverfassungsgericht berief sich auf Artikel 103 Absatz 3 des | |
Grundgesetzes: „Niemand darf wegen derselben Tat (…) mehrmals bestraft | |
werden“, heißt es dort. Dies gelte auch nach einem Freispruch, so die | |
Senatsvorsitzende Doris König. Es handele sich nicht nur um ein Verbot der | |
Mehrfachbestrafung, sondern auch um ein Verbot der Mehrfachverfolgung. | |
Entscheidende Frage war, ob Eingriffe in das Mehrfachverfolgungsverbot zu | |
Gunsten anderer Rechtsgüter möglich sind, etwa zugunsten einer effizienten | |
Strafverfolgung und um Gerechtigkeit zu erreichen. Die Mehrheit des Senats | |
– sechs von acht Richterinnen – haben das jedoch verneint. Das Grundgesetz | |
habe hier ausnahmsweise eine abschließende und abwägungsfeste Regelung | |
getroffen. Der Rechtsfrieden habe hier Vorrang vor dem Streben nach | |
Gerechtigkeit. Dies sei eine Lehre aus der NS-Zeit, als die Rechtskraft von | |
Urteilen wenig galt, erklärte die federführende Richterin Astrid | |
Wallrabenstein. | |
Zwei eher konservative Richter:innen – Christine Langenfeld und Peter | |
Müller – wollten jedoch eine Abwägung und damit gesetzliche Einschränkungen | |
zulassen. Doch auch sie votierten am Ende zugunsten der | |
Verfassungsbeschwerde von Ismet H., weil die Gesetzesänderung nicht nur für | |
zukünftige Fälle gelten sollte, sondern auch rückwirkend. Dies verstoße | |
gegen das Rechtsstaatsprinzip. | |
## Ampel strebt kein neues Gesetz an | |
Die Gesetzesänderung von 2021 ist damit vom Tisch und kann nicht repariert | |
werden. Politisch ist dies ein Erfolg für FDP und Grüne, die die | |
Verfassungsklage unterstützten, und eine Niederlage für SPD und CDU/CSU, | |
die die Gesetzesänderung durchgesetzt haben. SPD-Rechtspolitiker Johannes | |
Fechner sagte, man werde das Urteil akzeptieren und nicht versuchen, es | |
über eine Grundgesetzänderung auszuhebeln. | |
31 Oct 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Pruefung-des-Bundesverfassungsgerichts/!5936739 | |
[2] /Eil-Beschluss-des-Bundesverfassungsgerichts/!5868903 | |
[3] /Pruefung-des-Bundesverfassungsgerichts/!5936739 | |
## AUTOREN | |
Christian Rath | |
## TAGS | |
Bundesverfassungsgericht | |
Justiz | |
Mordverdacht | |
Freispruch | |
Bundesverfassungsgericht | |
Bundesgerichtshof | |
Mord | |
Gerichtsprozess | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Bundesverfassungsgericht kippt Gesetz: Unnötig kleinkariert | |
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass von Mord Freigesprochene | |
nicht erneut angeklagt werden dürfen. Doch die Argumente überzeugen nicht. | |
Prüfung des Bundesverfassungsgerichts: Gerechtigkeit oder Dammbruch | |
Das Bundesverfassungsgericht prüft, ob die Wiederaufnahme von Mordverfahren | |
nach Freisprüchen zulässig ist. Das Gesetz ist von 2021. | |
Eil-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts: Mordverdächtiger kommt frei | |
Vor mehr als 40 Jahren wurde ein Mädchen ermordet. Seit Februar saß der | |
Tatverdächtige in U-Haft – aufgrund eines womöglich verfassungswidrigen | |
Gesetzes. | |
Mord an Frederike von Möhlmann 1981: Wiederaufnahme von Prozess möglich | |
Für einen neuen Prozess im Mordfall von Möhlmann änderte der Bundestag das | |
Gesetz. Richter:innen gaben nun grünes Licht für einen neuen Anlauf. |