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# taz.de -- Neuer Roman von Katharina Mevissen: Der Übermut nach der Schwermut
> Katharina Mevissen erzählt von einer Frau, die wuchtvoll altern will.
> Kurze Sätze, starke Bilder – „Mutters Stimmbruch“ will laut gelesen
> werden.
Bild: Zur Wendung kommt es, als das Haus, mit dem Mutter so eng verschränkt le…
Mutter heißt einfach nur Mutter. Nichts Genaues weiß man ansonsten über
sie, weder ihren Namen noch ihr Alter. Stattdessen erzählt Autorin
Katharina Mevissen in ihrem Roman „Mutters Stimmbruch“ von der
Protagonistin in Bildern. Mutters Haus und ihre Stimme, ihre Zähne und das
Meer unter dem Garten werden zu den Schauplätzen, auf denen sich Mutter den
Zumutungen des Alterns stellt, um eine ungewöhnliche Emanzipation zu
beginnen.
In kurzen, oft nur zwei- bis dreiseitigen Szenen, wie dicke Pinselstriche
auf einem expressionistischen Landschaftsbild, beschreibt Mevissen
eineinhalb Jahre des Lebens einer älteren Frau, die in ihrem Haus am
Stadtrand lebt und sich dort hauptsächlich mit ihrem Garten beschäftigt.
Sie ist allein, ihre Kinder sind längst ausgezogen, mitteilen tut sie sich
eigentlich niemandem mehr. Ihre acht Sprachen – die Körpersprache, die
Haussprache, die Gartensprache, vier Fremdsprachen und die Kindersprache –
benutzt sie gar nicht mehr oder nur noch selten.
Wie das Haus, durch das sich jetzt Wurzeln bohren und der Herbstwind sich
zieht, scheint sich auch die Protagonistin verändert zu haben. „Mutter
schlingt die Arme um ihren Brustkorb, presst die Kiefer zusammen, hält sich
fest. Es klopft in den Zähnen, in den Gelenken. Mutter weiß: Körper sind
nichts Verlässliches. Sie beginnen mit ein paar Behauptungen und vielen
Möglichkeiten. Machen erst große Versprechen und dann doch, was sie
wollen.“
Der Text ist voller kurzer Hauptsätze. Die besondere Erzählweise der
Autorin, das kühle und beständig Klare daran, distanziert die
Leser*innen von der verschrobenen Mutter. Als solle nichts aufgedrängt,
niemand vereinnahmt werden von den innersten Sehnsüchten der sonderbaren
Protagonistin.
„Das Haus sagt nichts. Es schweigt aus allen Zimmern und Schränken. Mutter
schweigt zurück und schlurft in den Garten. Dort führen die Bäume ein
angeregtes Gespräch. Mutter beteiligt sich nicht daran und schneidet die
vertrockneten Blütenköpfe aus den Hortensien.“
## Wut und Körperkraft
Doch die manchmal fast gleichmütig scheinende Distanz täuscht, dazwischen
blitzt eine unaufgeregte und unbeschämte Nähe auf. Dann, wenn Mutter voll
Wut und Körperkraft den Garten umgräbt, wenn sie zu den Börsenzahlen
masturbiert oder in der Badewanne Brustschwimmen geht.
Zur Wendung kommt es, als das Haus, mit dem Mutter so eng verschränkt lebt,
sie brutal verrät. Die Heizung fällt aus, die Wasserrohre brechen, und
Mutter schlägt sich im Trubel treppab ihre Vorderzähne aus. So kann es für
Mutter nicht mehr weitergehen. Sie lässt sich ihre Zähne ziehen und zieht
aus dem Haus aus und in eine Wohnung in der Stadt.
Mutters Zähne, von den Milchzähnen bis zu den Zahnwurzeln und den Dritten,
dienen über den nur 112-seitigen Roman dabei als Motiv der Ver- und
Entwurzelung. Immer wieder tauchen sie auf, auch in den sieben
Illustrationen von Katharina Greeven.
## Ich kann dich hören
„Mutters Stimmbruch“ ist bereits der zweite Roman der 1991 geborenen
Katharina Mevissen. Ihr Debüt feierte sie 2019 mit [1][„Ich kann dich
hören“,] das den Kranichsteiner Literaturförderpreis gewann und vom WDR als
Hörspiel adaptiert wurde. Parallel arbeitet die Autorin außerdem an der
Freien Universität Berlin an ihrer Promotion über literarische
Mündlichkeit. Und dieses gelungene Bemühen nach Mündlichkeit merkt man
Katharina Mevissens Roman an. Die kurzen Sätze, die starken Bilder,
„Mutters Stimmbruch“ will laut gelesen werden.
Weil Mutter sich weigert hinzunehmen, was ist, bäumt sie sich auf gegen
ihre inneren Zustände und die externen Zuschreibungen. „Mutter braucht
Platz. Ohne sagen zu können wofür.“ Ihr Kehlkopf wächst, ihre Stimme wird
tiefer, der Stimmbruch. Ein Wandel vollzieht sich, aus der alternden Frau
im alten Haus scheint ein pubertierendes Wesen in der Stadt zu werden, das
Alter und Gender abstreift, um frech und übermütig zu sein.
Von nun an verliert die Figur nach und nach ihre Schwere. Beginnt eine
lustvolle Affäre mit der Stimme von der Telefonauskunft. Im Schwimmbad
schwimmt Mutter oben ohne und duscht in der Männerumkleide: „Mutter will
nicht festgehalten werden. Sie streift die Träger von den Schultern, lässt
sich frei, atmet durch. Ihre Brüste schwimmen davon, und Mutter treibt auf
dem Rücken. Sie öffnet den Mund, lässt das Meer hereinströmen – es schmec…
beißend nach Chlor.“
## Im Zentrum des eigenen Lebens
„Mutters Stimmbruch“ ist ein Roman über das Altern. Und doch ist er nicht
so, wie man denken könnte – entlang bekannter Erzählungen, um Akzeptanz und
Gewöhnung an die unwiderrufliche Veränderung bemüht. Altern wird bei
Mevissen nicht zur Verdammnis. Ohne zu bemitleiden, wird stattdessen mit
Leichtigkeit und Witz von der Sonderbarkeit des Altwerdens erzählt.
Viel wurde in den letzten Jahren zur Unsichtbarkeit von Frauen in und nach
den Wechseljahren geschrieben. Wenig hat sich an ihrer Sichtbarkeit bisher
getan. Die Themensetzung des Romans und Mutters Verwandlung selbst stellen
hingegen Mutter – und damit Mütter insgesamt – kompromisslos ins Zentrum
ihres eigenen Lebens. Und lassen Mutter so ungeahnt zum Vorbild werden.
Denn, „Mutter ist ihr eigener Mittelpunkt. Und die Zähne im Bad sind die
Peripherie.“
3 Jun 2023
## LINKS
[1] /Roman-ueber-Familiengeheimnis/!5580505
## AUTOREN
Amelie Sittenauer
## TAGS
Literatur
Frauenkörper
Frauenbild
Emanzipation
Altern
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Katharina Mevissen
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