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# taz.de -- Die Kunst der Woche für Berlin: Wider alle Essenzen
> Marco Reichert malt mit der Malmaschine, Brigitte Waldach fragt, wie wir
> Geschichte verstehen, und Juan Pablo Echeverri sprengte das
> Selbstportrait.
Bild: 24 Jahre Fotoautomat: Juan Pablo Echeverri, „miss fotojapón“ (#3 202…
Die ovale Form der gewellten schwarzen Linien erweckt den Eindruck eines
enorm vergrößerten Daumenabdrucks oder eines maskierten, verschleierten
Gesichts in Großaufnahme. Tatsächlich betrachtet man auf knapp zwei Dutzend
Leinwänden von Marco Reichert die Variationen zweier Abstraktionen, was in
ihren späteren Abwandlungen zunächst nur bedingt zu erkennen ist.
Die schweren farbsatten schwarzen Schleifen, durch die da und dort vom
Malgrund ein Blau, Grün oder Orange aufleuchtet, hängen am Kopfende eines
Saals in der Bergmannstraße, dessen ursprüngliche Funktion als Kreuzberger
Hinterhofkino, seine auffällige langgestreckte Form erklärt. Jetzt ist dort
die Galerie [1][HOTO] (für home to artists) zu Hause und zeigt die
Ausstellung „Digital is Much Better“ von Marco Reichert, der mit den
Betreibern Leopold Hornung und Antonio Rilling seit langem verbunden ist.
Dem Titel der Schau konträr scheint freilich eine Installation in der Mitte
des Saals, die aus einem grauen Schaltkasten besteht, wie er einem auf der
Straße auffällt, wenn die Telefonfuzzis am Arbeiten sind und einer mehr als
drei Meter langen Schiene, auf der ein schwarzer Arm vor- und zurückfährt,
wobei er die Anarchistenflagge mit dem weißen A im weißen Kreis schwenkt.
Allerdings steht da noch „analog“ auf der Flagge. Was ist nun besser?
Besser ist natürlich beides. Da sind die schon erwähnten malerischen
Abstraktionen, deren organische Form Marco Reichert aufgreift, teils
löscht, teils digital überschreibt. Diese Markierungen werden von einer vom
Künstler gehackten und zur Malmaschine umgebauten und mit jeder Menge
Datensätze und Algorithmen gefütterten CNC-Fräsmaschine ausgeführt. Marco
Reichert studierte Informatik, bevor an der Kunsthochschule Weißensee
seinen Abschluss machte. Die „analog“-Installation stellt eine Art Modell
der Apparatur dar.
Auf den Leinwänden ist gleichwohl sehr deutlich das Eingreifen des
Künstlers zu beobachten, etwa in den mit spiegelndem Firnis behandelten
Flächen. Insgesamt dominiert der malerische Eindruck, wobei Computerkunst
und Elemente von Graffiti coole Zeitgenossenschaft versichern.
## Zeichnen als Denkform
Daten spielen auch eine entscheidende Rolle in der Serie großer Zeichnungen
„History now“, die der Ausstellung in der [2][Galerie Pankow] mit aktuellen
Arbeiten von Brigitte Waldach den Titel gibt. Er führt in dem von
Geschichte besessenen Denken der Moderne unweigerlich zu schwierigen
Fragen. Wie meinen wir Geschichte konkret zu erleben? Wie erfahren wir sie,
medial vermittelt, gerne politisch instrumentalisiert? Selbst, wenn das
Krieg meint, wie wir zur Zeit leidvoll feststellen. Brigitte Waldach
freilich hat sich dort umgeschaut, wo der Streit um die Deutungshoheit über
geschichtliche Ereignisse und Figuren noch immer ein Streit mit Fakten und
begründeten Argumenten ist, bei Wikipedia.
Bekanntlich können die Artikel der Online-Enzyklopädie von jeder und jedem
bearbeitet werden, eine Möglichkeit, die Nutzer gerne und oft wahrnehmen,
besonders bei einer Reihe zentraler Themenfelder wie Religion, Ideologie,
Politik, Wissenschaft oder Kunst und Kultur, die auffällig oft überarbeitet
werden. Diese Bearbeitungen der Beiträge zu Christentum,
Nationalsozialismus, Terrorismus, Philosophie oder Psychoanalyse hat
Brigitte Waldach über sechs Monate hinweg beobachtet.
Um sie dann wie es ihre Art, also ihre Kunst ist, auf großen weißen
Papierbögen zu notieren, frei um die Figurenzeichnung von Jesus, Hitler,
Mitglieder der RAF oder Hannah Arendt flottierend, also Repräsentanten des
jeweiligen Themengebiets. Während die frühesten Einträge ganz blass auf dem
Papier erscheinen, wie im Palimpsest ausradiert durch die nachfolgenden
Korrekturen, sind diese desto kräftiger und dunkler auf das Ballt gesetzt,
je aktueller sie sind.
Brigitte Waldach ist Zeichnerin. Ausgerechnet die Meisterschülerin von
Georg Baselitz. Aber Brigitte Waldach ist eben Zeichnerin, weil sie
Denkerin ist. Zeichnen interessiert Waldach als diskursive, nicht nur
ästhetische Praxis. Die Künstlerin setzt sich mit der Zeichnung als
Ausdrucksmittel der Entwicklung und Erprobung gedanklicher Konstruktionen
auseinander, nutzt sie als genuines Medium der Reflexion. Und diesen
Prozess vollzieht sie nicht klein klein, sondern im großen Maßstab. Ihre
Blätter messen stets 190 x 140 cm, wobei sie die Arbeiten oft als Diptychen
und Triptychen konzipiert, weshalb sie dann, grob überschlagen, gerne zwei
mal drei Meter messen. Es braucht Hallen um beispielsweise ihren Zyklus der
Goldberg-Variationen zeigen zu können.
Waldachs Bach-Zyklus mit zehn Triptychen und zwei Einzelarbeiten schließt
mit dem Blatt „Aria-Ende“, das in Pankow zu sehen ist und auf dem die
Notation von sämtlichen 30 Variationen als weiße Freilassungen auf dem mit
Graphit überzogenen Blatt hervortreten und ein anschauliches Bild dessen zu
geben scheinen, was man White Noise nennt. Doch die Künstlerin hat einen
befreundeten Musiker beauftragt diese verdichtete Partitur in einer
Soundinstallation akustisch darzustellen und dabei stellt sich heraus: es
hört sich gut an und keineswegs nach White Noise.
„Plasma“, dargestellt als weiß flimmernder Regen und fluide Fläche, ist e…
weiteres Großformat in der gleichen Technik, die verlangt, das ganze 190 x
280 cm messende Papierflache mit dem Graphitstift auszumalen, bis auf die
weißen Freilassungen. Der Blick ins Universum, narrativ unterstützt durch
Text-Fragmente aus der biblischen Genesis, ist ein Blick in ein
ästhetisches Universum, einen Anthrazit glänzenden Kosmos zeitgenössischer
Zeichnung.
## Identität, 8000 Mal anders
Meistenteils analog, im Zeitalter des digitalen Selfie also noch einmal
ganz besonders interessant ist das Werk von Juan Pablo Echeverri. Denn der
1978 in Bogota, Kolumbien geborene Künstler, machte sich schon mit analogen
Mitteln, dem Fotoautomaten oder dem Besuch eines Passbildstudios, selbst
zum Bild. Diesen Vorgang, sich zu fotografieren, keineswegs in der Absicht
eines simplen Selbstporträts, sondern in der, ein Bild zu schaffen, auf dem
man sich selbst zum Bild gemacht hat, sieht der Kunsthistoriker Wolfgang
Ullrich ein Charakteristikum des Selfie.
Dass Juan Pablo Echeverri (1978-2022) von Beginn an diesen Werkansatz
verfolgte, hängt mit seinem aktivistischen Anliegen zusammen, sich einer
reduzierten, statischen und essentialistischen Lesart von Identität zu
widersetzten. Davon spricht auch der Titel „Identidad Perdida“ der
Ausstellung bei [3][Between Bridges], die an den Künstler erinnert, der
letztes Jahr auf einer Reise tragischerweise an Malaria erkrankte und
starb. Sich selbst zum Bild zu machen erlaubte es Echeverri mit einer
Vielfalt an Ausdrucksformen von Identität und Geschlecht zu
experimentieren. Er dokumentierte dies, indem er jeden Tag ein Porträt von
sich in einer Fotokabine aufnahm. Die so entstandenen Passbilder sammelte
er über 24 Jahre hinweg.
Unter dem Titel „miss fotojapón“ – unter anderem ein Wortspiel aus dem
Homophon miss/mis (spanisch mein) und der kolumbianischen Geschäftskette
Foto Japón – kam so ein Konvolut von über 8000 Bildern zusammen. Drei
Bildtafeln im Format von 100 x 100 cm bei Between Bridges zeigen drei
mögliche Zusammenstellungen von je 400 Bildern. Eines der Mittel, mit dem
Echeverri sein sich stets wandelndes Selbstbild kreierte, waren Frisur,
Haarlängen und Haarfarben. Auf „MascuLady“ (2006), einem Straßenaufsteller
wie er in Südamerika vor Friseurgeschäften zu finden ist, zeigt der
Künstler Frisuren in der damals populären, als metrosexuell gelabelten
Ästhetik.
Die besondere Bedeutung von Frisuren als Zeichen für die Zugehörigkeit zu
Subkulturen und Bewegungen, machte Joan Pablo Echeverri in einer eintägigen
Performance mit neun fotografischen Stationen deutlich, während seine Haare
immer wieder neu gefärbt und gleichzeitig stetig gekürzt und schließlich
ganz abrasiert wurden. „MUTILady“ (2003) ist an der Fassade plakatiert. Mit
wie viel Ideenreichtum, Wissen um kulturelle und popkulturelle Codes, Lust
am Spiel – mehr als an der simplen Provokation – und gleichzeitig mit wie
viel ernsthafter Überlegung und Arbeit der Künstler sein hochpolitisches
Anliegen in ein zugleich brillantes ästhetisches Ereignis überführte,
verdeutlichen einmal mehr seine Videos, die im Untergeschoß laufen und von
denen man kein einziges versäumen darf.
3 Jun 2023
## LINKS
[1] https://hotoart.de/about
[2] https://galerie-pankow.de/veranstaltungen/brigitte-waldach-history-now/
[3] https://www.betweenbridges.net/de
## AUTOREN
Brigitte Werneburg
## TAGS
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