| # taz.de -- 100 Jahre nach Georg Lukásc: Leben in der materialistischen Welt | |
| > Zum 100. Jubiläum der Marxistischen Arbeitswoche, dem ersten Seminar der | |
| > Frankfurter Schule, fanden in Jena und Frankfurt am Main Tagungen statt. | |
| Bild: Gruppenphotographie Marxistische Arbeitswoche in Geraberg, 1923 | |
| Das Jahr 1923 war noch ärger als heute: Hyperinflation, Hitler-Putsch und | |
| die endgültige Niederlage der Arbeiterbewegung in Westeuropa. Um dieses | |
| Scheiterns intellektuell Herr zu werden, trafen sich über Pfingsten 1923 21 | |
| Marxist:innen zur [1][achttägigen Marxistischen Arbeitswoche (MAW)]. | |
| Deren 100. Jubiläum war nun Anlass, bei zwei Tagungen in Jena und Frankfurt | |
| am Main Bilanz zu ziehen über ein Jahrhundert marxistischen Denkens und | |
| deren Gegenwart. | |
| Im Jahr 1923 versammelte sich im Thüringer Geraberg eine bunte Gruppe | |
| linker Denker:innen, darunter Georg Lukács, Karl und Hedda Korsch, der | |
| spätere Spion Stalins, Richard Sorge, Felix und Käthe Weil, Friedrich | |
| Pollock, Clara Zetkins Sohn Konstantin und der japanische Marxist Fukumoto | |
| Kazuo. Gerade waren zwei zentrale Texte des neueren Marxismus erschienen: | |
| Lukács veröffentlichte 1923 „Geschichte und Klassenbewusstsein“ und Korsch | |
| „Marxismus und Philosophie“. | |
| Die beiden Marxisten mit Regierungserfahrung (in der Budapester | |
| Sowjetrepublik und dem Freistaat Thüringen) gaben das Seminar „zur | |
| Methodenfrage“, daneben diskutierte man „Über die Behandlungsarten des | |
| gegenwärtigen Krisenproblems“ und zu „Organisatorischen Fragen der | |
| marxistischen Forschung“. Die MAW gilt als erstes Seminar des Instituts für | |
| Sozialforschung (IfS) und damit der Frankfurter Schule. | |
| An dieser gab es immer wieder Kritik: Der polnische Dissident Leszek | |
| Kołakowski nannte den Band seiner mehrteiligen Geschichte des Marxismus, in | |
| dem er die Frankfurter Schule behandelte, „Zerfall“. Lukács urteilte aus | |
| seinem stalinistischen Kokon, die Frankfurter Kollegen lebten im | |
| „Grandhotel Abgrund“. Der britische Historiker Perry Anderson fällte in den | |
| Siebzigern ein differenzierteres, aber scharfes Urteil. | |
| ## Ein buntes Bouquet | |
| In seinem Buch „Über den westlichen Marxismus“ (gerade bei Dietz wieder auf | |
| Deutsch erschienen) bemängelte er die Abkehr von Praxis und Aktivismus, den | |
| Rückzug in die Universität und in provinzielle nationale Silos, einen Fokus | |
| auf Überbau und Kultur und eine Vernachlässigung der Basis, der Wirtschaft | |
| und der Strategie. | |
| „Nicht wir haben die Praxis verlassen, sondern die Praxis hat uns | |
| verlassen“, lautet das Zitat von Leo Löwenthal, das in der Zweiten | |
| Marxistischen Arbeitswoche vergangenes Wochenende am IfS in Frankfurt immer | |
| wieder gegen solche Anschuldigungen ins Feld geführt wurde. Diese [2][neue | |
| MAW war von fast unüberschaubarer Größe und Vielfalt]: An drei Tagen fanden | |
| fast 70 eintrittsfreie Veranstaltungen statt, für die sich 800 Menschen | |
| angemeldet hatten. Präsentiert wurde ein buntes Bouquet an aktuellen Themen | |
| der marxistisch informierten Forschung, darunter Klassiker der Frankfurter | |
| Schule wie Antisemitismus, Fortschrittskritik, Psychoanalyse, aber auch | |
| neuere Themen: Feminismus, Antirassismus, Ökologie. | |
| Anwesend war ein großteils junges, akademisches Publikum – nicht gerade die | |
| arbeitende Klasse, die laut Marx als einzige dazu in der Lage sei, den | |
| Kapitalismus zu überwinden, nicht weil sie am meisten unterdrückt und | |
| ausgebeutet oder moralisch am reinsten wäre, sondern weil sie die | |
| Möglichkeit hat, sich als Klasse zu erkennen und die Fähigkeit, den | |
| Kapitalismus an seinen Produktionsmitteln zu packen. | |
| Diese zentrale These war in dieser Woche wenig präsent. Der Überbau | |
| beherrscht noch immer die Aufmerksamkeit. Zwar war viel von | |
| Herrschaftskritik die Rede, doch das wahre Problem sahen viele Vortragende | |
| offenbar nicht bei den Mächtigen, sondern im unteren Teil der Gesellschaft. | |
| Mehrmals fiel die historische widerlegte These, die arbeitende Klasse sei | |
| die Stütze des Nationalsozialismus gewesen, doch auch heute, hörte man, sei | |
| sie ein großes Problem, denn sie stellte mit ihrer Vorliebe für | |
| Einfamilienhäuser und Autos eine zu überwindende Hürde für die Ökologie | |
| dar. | |
| ## Ist Klasse überhaupt noch wichtig? | |
| Die Krönung war das ernüchternde Abschlusspodium am Montagabend, dessen | |
| Leitfrage auf einer sich marxistisch nennenden Konferenz irritiert: Ist | |
| Klasse überhaupt noch wichtig? Ein Pannelist hatte so viel Marx gelesen, | |
| dass er nun fand: nein, „das Proletariat muss aufhören“. Seine Kontrahentin | |
| stieg leider wenig überzeugend für den Klassenbegriff in den Ring. | |
| Dabei hatte es übers Wochenende an der MAW viele Highlights gegeben. | |
| Rhetorisch und humoristisch brillierte das sozialistische Urgestein Thomas | |
| Ebermann über Bedürfnisse im Kapitalismus, in dem er dem Publikum in | |
| Erinnerung rief, nicht die kulturellen Präferenzen des Proletariats zu | |
| kritisieren, sondern die Bedingungen, in denen sie leben. Unter den vielen | |
| Theorieveranstaltungen stach der Workshop der Jenaer Soziologin Janina | |
| Puder zu Überausbeutung und Rassismus besonders heraus. Auch Bafta Sarbo | |
| referierte in einem proppenvollen Saal souverän zu ihrem neuen Buch, | |
| „Diversität der Ausbeutung“ (bei Dietz) über marxistische Analysen des | |
| Rassismus und Kritiken am liberalen Antirassismus. | |
| Und der angeblichen Abkehr von der Praxis hielt die MAW in jedem Zeitslot | |
| einen Workshop mit konkreter aktivistischer Anbindung entgegen, sei es zur | |
| Krankenhausbewegung oder zu Wohnraumkämpfen, einen lebendigen Workshop | |
| „Klassenpolitik im Kapitalozän“ oder ein lehrreiches Panel des | |
| TIE-Netzwerks mit Gewerkschafterinnen der Bekleidungsbranche aus Indien und | |
| von H & M in Deutschland. Raul Zeliks Vortrag über Marxismus und Ökologie | |
| fand sogar als Straßenblockade auf einer Kreuzung statt. Theorie als | |
| Praxis? Zelik ermahnte das animierte Publikum, mit solchen Aktionen nicht | |
| die arbeitende Bevölkerung zu stören, sondern die Zentralen der Macht und | |
| der Wirtschaft anzuzielen, ein Anlass für viele über Bier und Kippen | |
| weitergeführte Gespräche über Strategie. | |
| ## Willkommen im Neofeudalismus | |
| Eine kleinere, präzisere Veranstaltung fand wenige Tage zuvor an der | |
| Universität Jena statt, im Bundesland der ersten MAW. Geladen hatte das | |
| Institut für Soziologie und der Forschungsschwerpunkt Strukturwandel des | |
| Eigentums. Die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Jodi Dean stellte | |
| in einem Vortrag mit anschließender Debatte ihre neue, schlussendlich wenig | |
| überzeugende, aber gedanklich fruchtbare These vor, der Kapitalismus sei in | |
| eine neue Phase eingetreten, den Neofeudalismus. | |
| Ihr hielt die gerade omnipräsente Chefredakteurin von Jacobin, Ines | |
| Schwerdtner, ihren Bezug zur Praxis der Arbeitskämpfe entgegen. Noch gebe | |
| es viele Menschen, die nicht Dienstboten seien, sondern in der Produktion | |
| oder Zirkulation von Waren arbeiteten. Danach stellte sich in Workshops zu | |
| Krisentheorien und Bewusstsein die vielfältige materialistische Forschung | |
| Jenas vor. Die Jenaer Vorträge und Diskussionen wirkten dabei etwas mehr im | |
| Boden der materiellen Verhältnisse verankert und anschlussfähig für | |
| tatsächlichen politischen Aktivismus als die oft ephemeren Debatten in | |
| Frankfurt. | |
| Doch bei den vielfältigen und oft gegensätzlichen Positionen, Analysen und | |
| Forschungsschwerpunkten, die unter dem Label Marxismus an den MAWs präsent | |
| waren, fiel es schwer, einen roten Faden zu finden. Aber vielleicht | |
| markiert diese Woche ja eine vermehrte Hinwendung von Akademie und | |
| Aktivismus zu materialistischen Fragestellungen, ein in allen | |
| Meinungsverschiedenheiten gemeinsamer Boden. | |
| 2 Jun 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.rosalux.de/news/id/50392/100-jahre-erste-marxistische-arbeitswo… | |
| [2] https://maw2023.ifs.uni-frankfurt.de/228.html | |
| ## AUTOREN | |
| Caspar Shaller | |
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