Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Inklusion in der Musik: Zahnpasta ist gut für die Latrine
> Nico Deuster war als DJ für 18 Uhr gebucht. Eigentlich eine schlechte
> Zeit zum Auflegen – aber es kam anders und die Folgen begleiten ihn bis
> heute.
Bild: Ekstase pur um 18 Uhr: Die Vier vom Projekt „Ick mach Welle“
Erstmal eine gute Nachricht: Die Zeiten, in den Menschen mit
Beeinträchtigung zur kulturellen Erbauung bestenfalls einen Volksmusikabend
in einer sozialen Einrichtung angeboten bekamen, scheinen vorbei. In den
vergangenen Jahren passierte einiges in puncto Inklusion.
Doch auch wenn das Thema in der Clubszene, die sich gerne als offen in
verschiedenste Richtungen präsentiert, auf der Agenda nach oben gerückt
ist: Die Realität jenseits von geförderten Projekten gestaltet sich nach
wie vor schwierig.
Schließlich liegt der Teufel im Detail: Fahrdienste, die nachts nicht zur
Verfügung stehen; Türsteher, an denen nicht vorbeikommt, wer nicht ins Bild
passt. Und Eintrittspreise, zumeist zu hoch für Menschen, die in einer
sozialen Einrichtung nur kleines Geld verdienen.
Zugleich hat sich nicht nur für Fans, sondern auch für Musikproduzenten mit
Behinderung die Lage gebessert. Leuchtendes Beispiel ist „Ick Mach Welle“.
Bei diesem inklusiven Musikprojekt in Berlin wird der Zugang zum
Aufnahmestudio ermöglicht, Knowhow mit Mentoring-Programmen und in
Workshops vermittelt, damit Musik selbst produziert werden kann.
## Knowhow durch Mentoringprogramm
Der Berliner DJ und Labelbetreiber Nico Deuster wurde auf das Thema
aufmerksam, als er bei einer „Spaceship“-Party auflegte, direkt im
Anschluss an eine Afterhour. Dabei war ihm gar nicht klar, dass man ihn für
eine inklusive Party gebucht hatte. Aber Deuster war total geflasht von der
Feierlaune, die ihm da zur Peakhour 18.00 Uhr entgegenschlug; sonst ist das
ja eher eine undankbare Uhrzeit zum Auflegen. Daraus entwickelte sich „Ick
Mach Welle“ als Kooperation zwischen Deusters Technolabel Killekill, zum
Veranstalter des Krake-Festivals, und dem Selbsthilfeverband Lebenshilfe.
Gefördert wird das Projekt zudem vom Musicboard Berlin, das sich dem Thema
Inklusion angenommen hat. Das alljährlich vom Musicboard ausgerichtete
Festival Popkultur etwa sorgt nicht nur für Barrierefreiheit und andere
Erleichterungen bei der Teilhabe, etwa Gebärdendolmetscher, sondern holt
Menschen mit Behinderungen auch auf die Bühne.
## „Komischet Jedudel“
Dafür, dass der Wechsel von der Konsumenten- zur Produzentenseite öfter
gelingt, macht sich auch „Ick Mach Welle“ stark. Einen Einblick in den
Stand der Dinge gibt der Sampler „Superbrains“, eine facettenreiche
Werkschau. Der Track „Ciao Mama, Goodbye“ von DJ Locati wirkt eigenwillig
düster, getragen von einem verschleppten Beat. „Komischet Jedudel“ von
Bläck Dävil dagegen klingt weder seltsam noch dudelig, sondern holt die
Hörer:in auf den bouncenden, euphorisierten Mainfloor.
Und im angedubbten „Tierisch verboten“ der Band Wellen. Brecher, zu der
Werner Soyeaux alias Bläck Dävil und Uwe Locati gehören, wird offenherzig
angesprochen, was für viele Menschen mit Beeinträchtigung der Elefant im
Raum ist: „Was muss man denn machen, um dazuzugehören/Ich versteh’ das
alles nicht/Hab ich nicht die coolen Klamotten wie ihr?/Sind es meine
Schuhe, die Scheiße aussehen? Ist es mein Aussehen allgemein? Im Gesicht?“
Das Video findet für diese drängenden Fragen eine stimmige Bildsprache.
## Schrunzels Schrampfsound
Der multimedial arbeitende Schrunzel, auf dem Sampler mit dem
Instrumentaltrack „Wurstel-knurstel“ vertreten, [1][macht sein ganz
eigenes, experimentelles Klanguniversum] auf. Seinen kongenialen Stil, in
dem meist über klöppelnd-galoppierenden Beats dadaistische Texte schweben,
bezeichnet er selbst als Schrampf; seine EP heißt entsprechend „Schrampf um
die Galaxis“. Auf diesem Debüt gibt es neben kniffeligen Beats schön
freidrehende Lyrics („Zahnpasta hat weniger Kalorien als Butter oder
Margarine/Und das ist gut für die Latrine, sagt die Biene“).
In die Texte fließen diverse Interessen ein: Physik,
Religionswissenschaften und dänische Mittelalterlyrik. Auch die Frage, ob
Roboter der Menschheit nun helfen oder schaden, treibt Schrunzel um. Der
Blick auf ein Thema, das angesichts der Diskussion um Künstliche
Intelligenz aktuell bei vielen Ängste weckt, stellt sich für Menschen mit
Beeinträchtigung vielleicht nochmal anders dar: „Zum Schutz der
Zivilisation programmiert! Jede Bedrohung wird lokalisiert! Und restlos
eliminiert! Computer-Analyse-Zyklus aktiviert! Menschliche
Bio-Charakteristika werden analysiert! Der Mensch wurde als Bedrohung
identifiziert!“ Neben der Musik malt Schrunzel, produziert Videos und
schreibt an einem Science-Fiction Roman.
Anfang Juni wird es zwei weitere Solo-Veröffentlichungen aus dem „Ick Mach
Welle“-Kosmos geben, von Wellen.Brecher und Bläck Dävil ([2][dem nun auch
ein schöner Dokfilm im Rahmen der Reportage-Reihe „einfach Mensch“ gewidmet
ist; zu finden im Killekill-Youtube-Kanal und der ZDF-Mediathek]).
Und die Künstler:innen stehen nicht nur bei Partys wie „Spaceship“ im
Line-Up, sondern auch bei Festivals wie „Fusion“ und „Nation of Gondwana�…
die sich Inklusion nicht explizit auf die Fahnen geschrieben haben. Da geht
noch was!
18 May 2023
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=9_dRg2q19hI
[2] https://www.ickmachwelle.berlin/einfach-mensch-zdf-portrays-blaeck-daevil-f…
## AUTOREN
Stephanie Grimm
## TAGS
Inklusion
Party
Produktion
taz Plan
taz Plan
taz Plan
R&B
Christian Specht
wochentaz
## ARTIKEL ZUM THEMA
Konzerttipps für Berlin: Mit Soundclash und Sog
Eine Perfekte Woche für laue Nächte mit dem Performing Exiles-Festival,
diversen Jazz-Exzessen, elektronischen Klängen und 30 Stunden
Krake-Festival.
Neue Musik aus Berlin: Gluckernd im Rhythmus
Das neue Album von Hanno Leichtmann heißt wie sein jüngstes Alter Ego:
"Chromacolor". Echtzeitmusik und jazzige Töne erzeugen darauf einen sanften
Sog.
Konzerttipps für Berlin: Alles schön und gut
A.S. Fannings kommt mit darkem Folk, die Thumpasaurus mit sinnstiftendem
Funk. Und das Londoner Trio Still House Plants mit spröder Schönheit.
SBTRKT veröffentlicht ein neues Album: Eine Pop-Oper im Miniaturformat
Jahrelang was es ruhig und öde um den Künstler SBTRKT. Auf den 22 Tracks
von „The Rat Road“ zeigt er, was ihn von anderen Produzenten unterscheidet.
Behindertenparlament in Berlin: Hier werden Hürden beseitigt
Bei der diesjährigen Auftaktveranstaltung macht das Berliner
Behindertenparlament Druck auf den neuen schwarz-roten Senat.
Inklusion in der Schauspielausbildung: Alles spielen können
Yulia Yáñez Schmidt ist die erste Absolventin des Inklusiven
Schauspielstudios Wuppertal. Dort werden Menschen mit Behinderung
ausgebildet.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.