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# taz.de -- Silvesterkrawalle in Berlin: Männliches Geltungsbedürfnis
> Das Bild von frei drehenden muslimischen Jugendlichen festigte sich nach
> den Silvesterkrawallen. In der Volksbühne wurde über die Folgen
> diskutiert.
Bild: Feuerwerkskörper aus der Silvesternacht 2023
„Frohes Neues“ begrüßt Daniel-Dylan Böhmer, Journalist und Moderator des
Abends, mit einem Augenzwinkern das Publikum. Bei der Veranstaltung mit dem
Titel „Angry Young Men“ am Montagabend in der [1][Volksbühne in Berlin]
sollen die Ereignisse der Berliner Silvesternacht diskutiert werden, ohne
dabei den rassistischen Diskurs vom „[2][muslimischen Ghetto Neukölln]“ zu
reproduzieren. Die Debatte, die den Wiederholungswahlkampf für den
[3][Berliner Senat] mitbestimmte, ist inzwischen abgeklungen. „Doch das
nächste Silvester kommt bestimmt“, da ist sich Moderator Böhmer sicher.
Dabei seien junge Männer, die kollektiv und mehr oder weniger spontan
randalieren, sich prügeln oder mit der Staatsmacht anlegten, keineswegs ein
neues Phänomen, argumentiert der Pädagoge Ahmed Toprak, der selbst
Anti-Gewalt-Trainings mit Jugendlichen durchgeführt hat. Das habe es schon
in den 50er-Jahren gegeben, bevor Millionen von Menschen aus der Türkei und
anderen Ländern als billige Arbeitskräfte in Deutschland angeworben wurden,
sagt er.
## Jugendgewalt nimmt ab
Dass die Ursachen für solche Ereignisse in rassistischen Zuschreibungen
gesucht werden, sobald Migranten beteiligt seien, sei auch nicht neu.
Toprak verweist auf eine Massenschlägerei 1998 in München, die die CSU
nutzte, um im Wahlkampf Stimmung gegen Muslime zu machen. Jugendgewalt
nehme laut sämtlichen Studien über die Jahrzehnte eher ab, dieser Trend sei
aber nicht so wahrnehmbar, weil auch die gesellschaftliche Akzeptanz für
Gewalt abnehme.
Dass diese Gewalt fast ausschließlich von Männern kommt, da sind sich alle
Diskussionsteilnehmer*innen einig. Die Journalistin und Autorin
Sineb El Masrar sucht die Ursachen für Dominanzverhalten und patriarchale
Denkweisen in der Erziehung im Elternhaus junger Männer. Zwar sei auch die
deutsche Mehrheitsgesellschaft patriarchal geprägt, wie El Masrar
eingesteht. Wenn an diesem Abend in der Volksbühne über den Zusammenhang
von Gewalt und Männlichkeit geredet wird, wird diese dennoch ausschließlich
als migrantische Männlichkeit verhandelt.
Nahed Samour, Rechts- und Islamwissenschaftlerin und dritte Teilnehmerin
des Podiums, verweist auf einen weiteren Punkt: den bei der Polizei
vorherrschenden Rassismus und die andauernde Erfahrung junger muslimischer
Menschen mit Racial Profiling und Polizeigewalt. Auch überfallartige
Razzien in Shishabars beispielsweise seien gerade in Neukölln keine
Seltenheiten. Samour beobachtet eine Eskalation in der Rhetorik der
Polizei, wenn es um die Beschreibung sozialer Probleme geht.
## Angriffe auf Polizei nicht nur aus Geltungsdrang
„Polizei ersetzt keine Pädagogik“: Auf diesen Satz von Ahmed Toprak können
sich alle Teilnehmenden einigen. Das Problem an Prävention sei, dass ihre
Erfolge eben nicht unmittelbar messbar sind: das sei das sogenannte
Präventionsparadoxon. Jugendgewalt, wie sie in der Neuköllner
Silvesternacht auftrat, sei ein Problem der Abgehängten. Es sei eine
Möglichkeit für Menschen, denen es an Teilhabechance fehle, sich Geltung zu
verschaffen, so Toprak.
Dass Angriffe auf die Polizei nicht bloß aus Geltungsdrang, sondern auch
als Reaktion auf alltägliche Gewalterfahrungen durch die Polizei geschehen,
wird zwar immer wieder angedeutet, weitere Schlussfolgerungen werden aus
dieser Erkenntnis in der Diskussion jedoch nicht gezogen. Was männliches
Dominanzverhalten und das Bedürfnis, sich Geltung zu verschaffen, mit einer
Gesellschaftsordnung zu tun hat, die Konkurrenz zum Grundprinzip hat, ist
eine weitere offene Frage dieses Abends.
Was denn jetzt mit der Polizei sei und ob die Politik irgendetwas ändern
will, möchte ein Zuhörer wissen, als die Diskussion für das Publikum
geöffnet wird. Zumindest weiß Moderator Böhmer, dass Bürgermeister Kai
Wegner schon angekündigt hat, die Polizei in der nächsten Silvesternacht
an „vorderster Front“ zu begleiten. Na dann: Guten Rutsch!
23 May 2023
## LINKS
[1] /Fabian-Hinrichs-inszeniert-in-Berlin/!5927339
[2] /Nach-Silvester-Randale-in-Berlin/!5905301
[3] /Als-Konsequenz-aus-Silvesterkrawallen/!5906266
## AUTOREN
Tim Döpke
## TAGS
Berliner Volksbühne
Silvester
Krawalle
Muslime in Deutschland
Berlin-Neukölln
Berlin-Neukölln
Görlitzer Park
Schwerpunkt Rassismus
Nancy Faeser
Lesestück Recherche und Reportage
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