# taz.de -- Flüchtlingspolitik in Berlin: Es wird noch schlimmer werden | |
> Ohne das Korrektiv von Grünen und Linken wird die Flüchtlingspolitik des | |
> Senats noch inhumaner. Das zeigt sich am Umgang mit dem | |
> Winterabschiebestopp. | |
Bild: Protest gegen Abschiebungen vom BER | |
In wohl kaum einem Politikfeld wird man den Regierungswechsel in Berlin so | |
stark merken wie im Bereich Flüchtlinge und Migration. Das liegt aber nicht | |
daran, dass Rot-Grün-Rot hier wahnsinnig viel Progressives und Humanes | |
erreicht hätte – eher das Gegenteil ist der Fall. Viel Gutes hat die SPD | |
und die von ihr geführte Innenverwaltung blockiert bis abgeschwächt, viel | |
Schlechtes knallhart durchgezogen. | |
So braucht es wenig Phantasie um sich vorzustellen, nach welchen Leitlinien | |
Innensenatorin Iris Spranger (SPD) künftig agieren wird – nun in der | |
Koalition mit einer Partei, für die Migration vor allem die „Mutter aller | |
Probleme“ ist, wie es [1][Horst Seehofer einst formulierte]. | |
Beispiel Winterabschiebestopp: Auf Drängen von Grünen und Linken hatte | |
Rot-Grün-Rot vereinbart, im Winter nicht in Regionen abzuschieben, „wenn | |
Witterungsverhältnisse dies humanitär gebieten“. Diese Regelung ist aus | |
humanitären Gründen zwingend notwendig, denn für sehr viele Menschen, vor | |
allem Kinder, Alte und Kranke, bedeutet eine Abschiebung im Winter eine | |
Abschiebung ins lebensgefährliche Elend. Dies betrifft etwa Romn*ja aus | |
Moldau, die dort oft nicht einmal ein dichtes Dach überm Kopf haben, von | |
Heizmitteln ganz zu schweigen. | |
Doch weil sich der Diskurs um Migration seit 9/11 (oder noch länger) | |
vorrangig um die Aspekte Sicherheit und Kriminalität dreht, konnte die SPD | |
– auf den Beifall der Stammtische schielend – in den Winterabschiebestopp | |
eine Ausnahme hinein verhandeln: „Straftäter“ sollten von der humanitären | |
Milde nicht profitieren. | |
Das Argument leuchtet zwar nicht jedem ein: Aber wenn die Grundlage von | |
Humanität als einer zutiefst menschenfreundlichen Gesinnung die Überzeugung | |
ist, dass Menschen unveräußerliche Rechte und eine Würde haben, gilt dies | |
ja wohl auch für Straftäter. Aber gut, nach Auffassung vieler, sogar | |
„liberal“ sich verstehender Menschen haben „Ausländer“, die „bei uns… | |
Schutz suchen und dann gegen Gesetze verstoßen, ihre „Chance verwirkt“. | |
R2G hatte nach Willen der SPD die Grenze so definiert, dass für alle, die | |
zu mehr als 50 Tagessätzen verurteilt wurden, der Abschiebeschutz im Winter | |
nicht gilt. [2][Daher wurden allein zwischen Dezember und Ende März 157 | |
Menschen aus Berlin abgeschoben,] wie es in den in dieser Woche | |
veröffentlichten Antworten der Innenverwaltung auf eine Anfrage der | |
Grünen-Abgeordneten Jian Omar und Vasili Franco heißt. | |
## Schon Bagatell-Delikte reichen | |
Nun muss man wissen: Zu 50 Tagessätzen kann man schon wegen | |
Bagatell-Delikten wie Ladendiebstahl oder wiederholtem Schwarzfahren | |
verurteilt werden. Ob das bei den 157 der Fall war beziehungsweise bei wie | |
vielen von ihnen, weiß man nicht – denn die Daten, welche Straftaten die | |
Abschüblinge genau begangen haben, erhebt die Innenverwaltung nicht. | |
Das ist übrigens ein beliebter Trick dieser und anderer Verwaltungen: | |
Daten, die Auskunft geben könnten über Tatbestände, die man lieber nicht so | |
genau wissen will, weil sie ein schlechtes Licht auf einen werfen, werden | |
nicht erhoben. So einfach ist das! | |
Wenn es einem also darum geht, möglichst viele Menschen abzuschieben, man | |
sich aber nicht dem Vorwurf aussetzen will, Menschen wegen | |
Beförderungserschleichung den Taliban zum Frass vor zu werfen, dann hält | |
man in seiner Statistik am besten nicht fest, warum der Mensch abgeschoben | |
wurde. Er ist ein Straftäter – das reicht doch wohl! | |
Und man hält am besten auch nicht fest, wie viele Familien bei den | |
Abschiebungen auseinander gerissen wurden, auch das könnte ja zu | |
gefühlsduseligen Anwandlungen – und Vorwürfen gegen die Polizei – führen. | |
Schließlich hat man ein Ziel: Abschieben, was der Pöbel liebt, und einen | |
Grund: „unsere Sicherheit“, was auch den Bourgeois überzeugt. Pfui, wie | |
inhuman. | |
## Was soll mensch von Spranger schon erwarten? | |
Aber was soll man von einer Innensenatorin erwarten, die eigentlich gar | |
keinen Winterabschiebestopp wollte (obwohl er im Koalitionsvertrag stand) | |
und mit dem Argument, man brauche die Heimplätze für Ukrainer*innen, noch | |
Ende November 600 Moldauer aus Berlin abgeschieben wollte? Und die davon | |
nur von den Koalitionspartnern Linke und Grüne abgehalten wurde? Und die, | |
sobald der Winterabschiebestopp am 31. März vorbei war, sogleich mit | |
Massenabschiebungen nach Moldau begonnen hat – als könne sie es gar nicht | |
erwarten, die Menschen zurück in ihr Elend zu schieben? Weil die ja „unser | |
Asylsystem missbrauchen“, wie jeder weiß, um „in unsere Sozialsysteme | |
einzuwandern“? | |
Dass in Punkto Migrationspolitik SPD und CDU viel besser zusammenpassen als | |
SPD und Linke/Grüne, hat sich [3][auch bei den Landesaufnahmeprogrammen] | |
gezeigt. Solche freiwilligen Aufnahmen von Menschen aus den Krisenregionen | |
dieser Welt haben SPD-Politiker*innen immer nur interessiert, wenn der | |
öffentliche Diskurs – etwa über katstrophale Zustände in griechischen | |
Flüchlingslagern – es opportun scheinen lässt, mal wieder die „humanitäre | |
Seite“ zu zeigen. Dann fordert man gerne die „sofortige“ Aufnahme von | |
Geflüchteten, wohl wissend, dass der Bundesinnenminister (damals Seehofer) | |
dies nicht zulassen wird. | |
Hat man aber wirklich die Möglichkeit, Menschen zu holen wie beim | |
Libanon-Programm, das Seehofer tatsächlich genehmigt hatte (ups, SPD!), | |
tritt die Innenverwaltung natürlich auf die Bremse. Wieder sind es | |
vorgebliche „Sicherheitsinteressen“, die die zügige Aufnahme von Menschen | |
verhindern; von Menschen wohlgemerkt, die vom UN-Flüchtlingskommissariat | |
als besonders schutzbedürftig eingestuft und für die Deutschen eigens | |
„vorsortiert“ werden. | |
Aber das ist der SPD nicht sicher genug, darum fuhren 2020 und 2021 | |
Berliner Polizist*innen extra nach Libanon, um die potenziellen | |
Profiteure unserer „humanitären Milde“ auf Herz und Nieren zu prüfen. All | |
dies sei aber – leider, leider – so viel Arbeit, dass Berlin unmöglich mehr | |
als 300 Menschen jährlich aufnehmen könne, wie die Innenverwaltung | |
durchblicken ließ. Da konnten Linke und Grüne noch so viel zetern und | |
fordern und mit dem Kopf wackeln. | |
Die SPD-Innensenatorin wird nun froh sein: Vom neuen Koalitionspartner CDU | |
wird sie nicht allzu sehr in Richtung humanitäre Flüchtlingspolitik | |
gedrängt werden. Eher ist das Gegenteil zu erwarten: mehr Abschiebungen, | |
auch im Winter, auch in Krisenregionen, weniger humanitäre Aufnahmen. Und | |
bald werden wir uns fast schon gerne an die rot-grün-rote | |
Flüchtlingspolitik zurück erinnern. | |
6 May 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Innenminister-Seehofer-zu-Migration/!5533764 | |
[2] /Fluechtlingspolitik-in-Berlin/!5928662 | |
[3] /Berliner-Fluechtlingspolitik/!5929731 | |
## AUTOREN | |
Susanne Memarnia | |
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