# taz.de -- Krise der Grünen: Immer wieder im Frühling | |
> Bei den Grünen schlägt zum dritten Mal ein Skandal im Frühling ein. Die | |
> Jahreszeit mag Zufall sein, aber die drei Fälle haben doch etwas | |
> gemeinsam. | |
Bild: Robert Habeck hält an seinem Staatssekretär Patrick Graichen (links) fe… | |
Einige Gruppen von Menschen blicken dem Frühling, anders als die Mehrheit | |
der Bevölkerung, jedes Jahr mit Schrecken entgegen. Pollen-Allergiker | |
gehören zum Beispiel dazu oder Chirurgen, die in der Nähe beliebter | |
Motorradrouten tätig sind. Ein weiterer Menschenschlag dürfte so langsam | |
ähnliche Ängste entwickeln: die Mitglieder der grünen Partei. | |
Ab dem dritten Mal ist es schließlich eine Tradition: Wenn die Tage länger | |
werden und die Blumen blühen, schlägt bei der Öko-Partei ein Skandal ein. | |
Die Fehltritte können nicht mit den ganz großen Affären der | |
bundesrepublikanischen Geschichte mithalten, es geht nicht um kaputte | |
Starfighter oder schwarze Kassen. Und noch nicht mal um dubiose Geschäfte | |
mit Pipelines in der Ostsee. | |
Es sind aber zumindest individuelle moralische Fehler von | |
überdurchschnittlicher Relevanz, über die einzelne Grünen-Politiker | |
mittlerweile in einer gewissen Regelmäßigkeit stolpern – zum Schaden der | |
ganzen Partei. | |
Im Frühjahr 2021 war es Annalena Baerbock, die als Spitzenkandidatin | |
erfolgversprechend ins Rennen um das Kanzleramt gestartet war, bevor ein | |
geschönter Lebenslauf und [1][Plagiate in ihrem Buch] publik wurden. Bis | |
zur Bundestagswahl im Herbst erholten sich die Grünen davon nicht mehr. | |
Im Frühjahr 2022 war es die damalige Bundesfamilienministerin Anne Spiegel, | |
die davon eingeholt wurde, dass sie im Sommer zuvor als Landesministerin in | |
Rheinland-Pfalz das Katastrophen-Management rund um die Ahrtal-Flut nicht | |
ernst genommen hatte. Nachdem sie in der Causa auch noch eine Anfrage der | |
Bild-Zeitung wahrheitswidrig beantwortet hatte, [2][verlor sie ihr Amt]. | |
Im Frühjahr 2023 ist es schließlich [3][Patrick Graichen], Staatssekretär | |
im Wirtschaftsministerium, der die Klappe gehalten hat, als sich sein | |
Trauzeuge um einen Spitzenjob bewarb. Graichen hat geschwiegen, statt die | |
Freundschaft offenzulegen und sich aus dem Besetzungsverfahren zu | |
verabschieden. Längst ist daraus [4][eine ausgewachsene Affäre für | |
Vizekanzler Robert Habeck] geworden – mit allem, was in solchen Fällen zum | |
Repertoire gehört: Befragung im Bundestagsausschuss, Presse-Meute vor der | |
Tür, Krisen-Interview in den Tagesthemen. | |
Dass es schon wieder im Frühling passiert, ist vermutlich Zufall. Einen | |
entscheidenden Zusammenhang zwischen den drei Fällen gibt es dennoch: Die | |
in den vergangenen Jahren rasant gewachsene Partei ist chronisch damit | |
überfordert, ihr Spitzenpersonal vor eigenen Fehlern zu bewahren. Und da | |
auch Grüne moralisch nicht so rein sind, wie es das selbst gepflegte | |
Stereotyp vermuten lässt, geht eben stetig etwas schief. | |
2021 wagten sich die Grünen als Partei mit Annalena Baerbock zum ersten Mal | |
überhaupt an einen Kanzlerinnenwahlkampf. Alles war neu – und das Team viel | |
zu klein. Die Strukturen in der Parteizentrale waren nicht im gleichen | |
Tempo gewachsen wie die Mitgliederzahlen und die eigenen Ziele. | |
Die Grünen waren nicht in der Lage, die eigene Kandidatin genau zu | |
durchleuchten, alle Schwachstellen zu identifizieren, auf alle | |
Angriffspunkte vorbereitet zu sein. Erschwerend kam hinzu, dass die | |
damalige Parteichefin intern als perfekt galt. Man kam gar nicht auf die | |
Idee, dass an ihr irgendwas nicht stimmen könnte. | |
Bei Anne Spiegel unterlief der Partei der Fehler ein halbes Jahr später: | |
Aus dem kräftezehrenden Wahlkampf waren die Grünen nahtlos in | |
kräftezehrende Koalitionsverhandlungen geschlittert. Als anschließend die | |
Kabinettsbildung anstand, war das gleiche kleine und jetzt auch noch | |
ausgelaugte Team zuständig. Ordentlich durchleuchtet wurde auch Spiegel | |
nicht. Andernfalls hätte man das Risiko erkannt, sie in Rheinland-Pfalz | |
belassen oder ihr zumindest eine ordentliche Verteidigungsstrategie in die | |
Schublade gelegt. | |
Im gleichen Zug legten die Grünen das Fundament für die Affäre Graichen. | |
Sie holten den Energie-Experten als Staatssekretär in die Regierung – einen | |
Mann aus einer Denkfabrik, der [5][zwar schon mal elf Jahre im | |
Bundesumweltministerium gearbeitet hatte], aber keine Erfahrung mit | |
politischen Ämtern mitbrachte. Das kann man machen, Expertise von außen | |
bereichert die Politik. Hilfreich wäre es dann aber, das fehlende Gespür | |
für politische Fallstricke anderweitig auszugleichen: durch dahingehend | |
erfahrene Mitarbeiter, durch enge Aufsicht, durch ausführliche Briefings. | |
Das Resultat zeigt: All das ist zumindest nicht im ausreichenden Maß | |
geschehen – was mit daran liegen könnte, dass für Habeck und seine Leute | |
auf den kräftezehrenden Wahlkampf und die kräftezehrenden | |
Koalitionsverhandlungen auch noch nahtlos eine kräftezehrende Energiekrise | |
folgte. | |
Das Tröstliche für Anhänger der Grünen: Es ist eine Lernkurve zu | |
beobachten, auch wenn sie nicht exponentiell nach oben verläuft und sich im | |
Moment sogar wieder nach unten wenden könnte. Als vor zwei Jahren | |
Baerbocks Plagiate publik wurden, reagierte die Partei zunächst mit einer | |
abenteuerlichen Abwehrstrategie: [6][Es gebe keine Plagiate, sondern nur | |
eine perfide „Dreckskampagne“] aus „Angst vor einer grünen Kanzlerin“ … | |
zur „Ablenkung vom Klimawandel“. Ein paar Tage später mussten die Grünen | |
dann kleinlaut zurückrudern. Dass sie sich die eigene Fehlbarkeit nicht | |
früher hatten eingestehen können, war am Ende das Schlimmste an der ganzen | |
Geschichte. | |
Schon ein Jahr später war im Fall Anne Spiegel der Lerneffekt zu bestaunen: | |
Nachdem die Ministerin die Bild belogen hatte, sahen die Grünen sofort ein, | |
dass da nicht mehr viel zu machen war. Sie lamentierten nicht über eine | |
miese Springer-Kampagne, sondern entzogen Spiegel die Unterstützung. Das | |
war menschlich hart, aber politisch klug. Nach ein paar Tagen war die | |
Nachfolgerin im Amt und die Affäre vergessen. | |
In der Affäre Graichen war das Krisenmanagement zu Beginn ebenfalls nicht | |
so schlecht. Erst mal haben die Grünen die Füße still gehalten, den Fehler | |
analysiert, ihn dann eingestanden und das Besetzungsverfahren neu | |
aufgerollt. [7][Nur gegen Graichens Rauswurf, der die Sache vermutlich | |
abgebunden hätte, entschied sich Habeck]. | |
Aus der Sache heraus lässt sich das sowohl verteidigen als auch | |
kritisieren. Es sind schon Leute für weniger gegangen, aber auch schon | |
Leute für mehr geblieben. Den Ausschlag in Richtung Nachsicht gab im | |
konkreten Fall wohl die zentrale Rolle, die die Grünen Graichen für die | |
Umsetzung der Energiewende zuschreiben: Glaubt man dem, was sie so | |
erzählen, gibt es im ganzen Land keinen Zweiten, der den Job auch nur | |
annähernd so gut erledigen könnte wie er. Noch nicht mal in seiner Familie. | |
Im Ergebnis aber haben sich die Grünen durch das Festhalten an Graichen in | |
ein Dilemma manövriert. Die Kritik reißt ja nicht ab. Den Staatssekretär | |
jetzt aber noch rausschmeißen? Das würde Habeck als Deppen dastehen lassen, | |
der erst immensen öffentlichen Druck braucht, um einen Irrtum einzusehen. | |
Stattdessen haben sich große Teile der Partei inklusive Vizekanzler zum | |
Gegenangriff entschlossen. Das Schuldeingeständnis ziehen sie zwar nicht | |
zurück, parallel klagen sie aber über eine Kampagne, die CSU, Bild und | |
Gaslobby gegen die Grünen betrieben. Der Geist von 2021 weht wieder. | |
Der Konter ist einerseits verständlich: [8][Eine Kampagne gibt es ja | |
wirklich]. Die Berichterstattung im Fall Graichen dreht sich längst nicht | |
mehr nur um das eigentliche Fehlverhalten. Es geht mittlerweile schon als | |
Skandal durch, dass Klimaschutz-Experten Klimaschutz-Experten kennen und | |
das Klima schützen wollen. Ausgerechnet CSU-Landesgruppenchef Alexander | |
Dobrindt dichtet inzwischen Mafia-Parallelen herbei, nennt Habeck den | |
„Paten des Graichen-Clans“. | |
All das unwidersprochen stehen zu lassen, würde sowohl den Grünen als auch | |
ihrer Sache schaden. Andererseits: In den Abendnachrichten darüber zu | |
jammern, wie gemein doch alle sind, und auf Twitter anzumerken, dass andere | |
Parteien eine viel dickere Skandal-Akte haben – das wirkt nicht sonderlich | |
souverän. Damit kann man die eigenen Reihen schließen. Mehr nicht. | |
Wie die Grünen es also auch anstellen: Aus der Affäre Graichen kommen sie | |
fürs Erste nicht raus. Und anders als 2022 bei Spiegel, dafür ähnlich wie | |
2021 bei Baerbock, kostet sie der Skandal politisches Kapital, das sie an | |
anderer Stelle besser gebrauchen könnten: Damals fehlten Zeit, Nerven und | |
Vertrauen für den Wahlkampf. Jetzt fehlen sie für das Ringen um das | |
Gebäudeenergiegesetz, das den Klimaschutz beim Heizen voranbringen soll, | |
aber seit Monaten selbst aus der eigenen Koalition heraus heftig beschossen | |
wird. | |
Immerhin: Hält sich die Ampel an ihren Zeitplan, wird dieser Streit bis zum | |
Sommer ausgefochten sein. Bis dahin könnte sich auch die Aufregung um den | |
Fall Graichen gelegt haben, vielleicht ist die Sache dann ausgesessen. | |
Womöglich können die Grünen danach zur Abwechslung sogar mal wieder ein | |
paar ruhige Monate genießen. Eines ist aber sicher: Das Frühjahr 2024 kommt | |
trotzdem. | |
13 May 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Nach-Plagiatsvorwuerfen/!5816516 | |
[2] /Ruecktritt-der-Bundesfamilienministerin/!5845190 | |
[3] /Graichen-Affaere-im-Klimaministerium/!5933091 | |
[4] /Graichen-Affaere-im-Klimaministerium/!593309 | |
[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Patrick_Graichen | |
[6] /Plagiatsvorwuerfe-gegen-Baerbock/!5780337 | |
[7] /Wirtschaftsministerium-in-der-Krise/!5930470 | |
[8] /Graichens-Fehler/!5929925 | |
## AUTOREN | |
Tobias Schulze | |
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