# taz.de -- Auf Kirchentour in Westbrandenburg: Früher so berühmt wie Rom | |
> Als Pilgerziel spielte Bad Wilsnack in einer Liga mit dem Vatikan. Lang | |
> her. Die mittelalterliche Kirchenpracht zu erhalten, ist eine | |
> Herausforderung. | |
Bild: Ablasshandel in frühen Epochen ermöglichte einst den Bau der wuchtigen … | |
Bad Wilsnack taz | Es ist schwer, sich beim Wandern rund um den Kurort | |
[1][Bad Wilsnack] zu verirren. Die wuchtige Wunderblutkirche ist weithin zu | |
sehen und weist den Kurgästen immer wieder den Weg zurück. | |
Das brandenburgische Bad Wilsnack, auf halbem Weg zwischen Berlin und | |
Hamburg gelegen, hat 2.500 Einwohner, einen Bahnanschluss, ein Thermalbad | |
mit Natursole, ein Gradierwerk und [2][eine der geschichtsträchtigsten | |
Kirchen Deutschlands]. Die riesige mittelalterliche Kirche ist für die | |
Gemeinde von 500 Mitgliedern „eigentlich nicht zu stemmen“, sagt Pfarrerin | |
Anna Trapp. | |
Das Bauwerk stammt aus einer Zeit, als man Bad Wilsnack überall in Europa | |
kannte: Die Legende erzählt, dass nach einem Feuer 1383, das den Ort und | |
die Kirche zerstörte, im Kirchenaltar aufbewahrte geweihte Hostien nicht | |
mit verbrannten. Sie nahmen vielmehr eine blutrote Färbung an. Sie galten | |
deswegen als Wunder und zogen Menschen aus halb Europa an. | |
Als Pilgerziel spielte Wilsnack in einer Liga mit Rom und dem spanischen | |
Santiago de Compostela. Menschen aus Skandinavien, dem Baltikum, den | |
deutschen Ländern, Flandern, Böhmen und Ungarn pilgerten nach Wilsnack. | |
Durch das Betrachten der Hostien versprachen sie sich Heilung von | |
Krankheiten, Straferlass und Vergebung ihrer Sünden. Übernachtungstourismus | |
und Ablasshandel spülten viel Geld in die Kirchenkassen und ermöglichten | |
den Bau der riesigen Kirche. | |
## Überall riesige Sakral- und Profanbauten | |
Mit der Reformation ging es mit den Pilgern und damit auch dem Geldfluss | |
langsam zurück. Als Joachim Ellefeld, Wilsnacks erster evangelischer | |
Pfarrer, im Jahr 1552 die Hostien verbrannte, war es damit ganz vorbei. | |
Doch als Erbschaft dieser Zeit stehen überall in der Prignitz riesige | |
Sakral- und Profanbauten, in denen die Pilger im Mittelalter auf dem Weg | |
von und nach Wilsnack Unterkunft fanden und Geld ließen. | |
Heute ist die Prignitz im Nordwesten Brandenburgs [3][ein dünn besiedelter | |
Landstrich] mit wenigen Kirchgängern. Doch die Kirchgemeinden müssen sich | |
um die Sanierung der Gebäude kümmern. Ja, es gibt staatliche Gelder, sagt | |
die Wilsnacker Pfarrerin Anna Trapp. Aber ob die auch abgerufen werden, | |
hinge davon ab, ob sich in einem ehrenamtlich tätigen Gemeindekirchenrat | |
Menschen finden, die sich über Jahre mit der Sanierung des Baus | |
beschäftigen wollen: Fördergelder beantragen, Firmen beauftragen, Arbeiten | |
koordinieren oder die empfindliche Orgel immer dann hinter einem Holzbau | |
verstecken, wenn der Baustaub sie zu beschädigen droht. „Es kann nicht | |
richtig sein“, sagt Trapp, „dass die Sanierung davon abhängt, ob es in den | |
Kirchengemeinden zufällig solche Engagierte gibt.“ | |
Für die Wunderblutkirche haben das ein Unternehmer, ein Förster und ein | |
Apotheker auf sich genommen. Keine Baufachleute. Aber, wie die Pfarrerin | |
sagt, „Männer mit Herzblut“. Von 2016 bis 2022 flossen Fördermittel aus | |
einem Bundesprogramm für Denkmäler von nationaler Bedeutung, die vom Land | |
und der Landeskirche kofinanziert werden mussten. „Die Schäden am Gebäude | |
waren aber so groß, dass die Mittel, die für die Innen- und Außensanierung | |
geplant waren, nur für außen reichten“, so Anna Trapp. | |
Als Besucher hört man davon mehr als dass man es sieht: Die einst von | |
Absturz bedrohten Glocken läuten wieder. Das Dach wurde völlig erneuert. | |
Ein Seitenfenster mit niederländischer Glaskunst aus dem Mittelalter drohte | |
in sich zusammenzufallen. Es musste darum von Grund auf saniert werden, was | |
viel Geld verschlang. | |
## „Daumenabdruck unserer Generation“ | |
Der Gemeinde gelang es, weitere Fördermittel für die Sanierung der derzeit | |
nicht nutzbaren Sakristei sowie für die Gestaltung von Fenstern mit | |
moderner Glasmalerei zu organisieren. Die Glasmalerei der Berliner | |
Künstlerin Leiko Ikemura erinnert an die mittelalterliche Geschichte mit | |
Brand und Hostien in der Wunderblutkirche. Am Pfingstmontag, dem 29. Mai | |
2023, werden sie um 15 Uhr eingeweiht, „ein Daumenabdruck unserer | |
Generation an einer historischen Kirche, was sie weit über unsere Zeit | |
hinaus prägen wird“, freut sich Anna Trapp. | |
Andernorts in der Prignitz verfallen dagegen historisch wertvolle | |
Sakralbauten, wie etwa die Kirche in Mesendorf oder die in Groß Werzin. | |
Unter diesem Fachwerkbau aus dem 18. Jahrhundert befindet sich eine | |
historische Gruftanlage. Die Sanierung würde die 13 Gemeindemitglieder | |
überfordern, sagt die Pfarrerin. Somit wird nichts zum Erhalt der Gräber | |
getan. | |
Die 207 Kirchen im Kirchenkreis Prignitz seien „viel mehr, als wir als | |
Evangelische Kirche brauchen“, sagt Superintendentin Eva-Maria Menard. Und | |
anders als im weit entfernten Berlin, wo Menard einst selbst Pfarrerin war, | |
könne die Kirche hier nicht einfach ihre nicht mehr benötigten Gebäude an | |
andere Gemeinden wie die orthodoxe oder an Konzertveranstalter abgeben. | |
„Aber sie werden gebraucht für die Ästhetik der Dörfer, als Landmarken oder | |
als Dorfgemeinschaftshaus“, sagt Menard. Und die Evangelische Kirche ist | |
Hausherrin, sie haftet, falls jemandem etwa ein Dachziegel auf den Kopf | |
fällt. Da sind die mittelalterlichen Gotteshäuser für die Institution | |
Kirche irgendetwas zwischen Last und Segen. | |
Auch wenn die Erhaltung nicht überall gelingt, die Superintendentin | |
beschreibt den Erhaltungszustand der Kirchen in der Prignitz „so gut wie | |
seit Jahrhunderten nicht. Da wurde nach der Wende enorm viel geleistet.“ | |
## Ein Unterschlupf für Fahrradtouristen | |
Doch für wen eigentlich werden die vielen Kirchgebäude erhalten? Für die | |
immer weniger werdenden Dorfbewohner? Für die noch geringeren Kirchgänger? | |
Für Touristen? „Die Kirchen müssen mit Leben gefüllt werden“, sagt die | |
Superintendentin. Komme die Initiative zur Sanierung allein von außen, | |
bringe das nichts. | |
Viele Kirchen öffnen sich. [4][Die winzige Kirche in Hinzdorf] | |
beispielsweise, direkt an der Elbe gelegen, ist außerhalb der | |
Gottesdienstzeiten für Radler auf dem Elberadweg geöffnet, die hier bei | |
schlechtem Wetter Unterschlupf finden. Und die riesige Kirche in Bad | |
Wilsnack beherbergt einen Weltladen, war auch schon Wahllokal, temporäres | |
Impfzentrum sowie Ort für Konzerte und politische Debatten. Im Perleberger | |
Ortsteil Quitzow teilt sich die evangelische Gemeinde ihr Gotteshaus mit | |
einer rumänisch-orthodoxen Gemeinde. | |
Nur 21 Kilometer von Bad Wilsnack entfernt, jedoch bereits im Bundesland | |
Sachsen-Anhalt, steht der seit 1996 prächtig restaurierte Dom zu Havelberg. | |
Auch er profitierte im Mittelalter vom Pilgertourismus. Und hier hat die | |
Kulturstiftung Sachsen-Anhalt der Kirche die Bürde für den Erhalt des | |
Gebäudes abgenommen. Der Dom gehört wie mehrere weitere bedeutsame | |
Sakralbauten in Sachsen-Anhalt der Stiftung, die die Bauarbeiten | |
koordinierte. Die Kirchgemeinde hat lediglich einen Nutzungsvertrag und | |
wird in Entscheidungen mit einbezogen. | |
Proteste der Gemeinde gegen die Enteignung gab es nicht, im Gegenteil: Auch | |
andere Kirchgemeinden würden sich so eine Lösung wünschen, sagt | |
Stiftungssprecherin Manuela Werner. | |
28 May 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.bad-wilsnack.de/ | |
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Wunderblutkirche_(Bad_Wilsnack) | |
[3] /Foerderprogramm-fuers-Landleben/!5815462 | |
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Dorfkirche_Hinzdorf | |
## AUTOREN | |
Marina Mai | |
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