| # taz.de -- Ausstellung von Marc Camille Chaimowicz: Sehr real, doch künstlich… | |
| > Im Brüsseler Ausstellungshaus WIELS darf die Kunst in einem schön | |
| > nostalgischen Rundgang von Marc Camille Chaimowicz einfach nur Kunst | |
| > sein. | |
| Bild: Marc Camille Chaimowicz, „Nuit américaine“, Installationsansicht im … | |
| Ausstellungen, die das Künstliche, Kultivierte, die Andersartigkeit von | |
| Kunst gegenüber dem Alltäglichen hervorheben, sind derzeit nicht gerade in | |
| Mode. Auf den aktuellen Biennalen oder im Berliner Ausstellungsbetrieb | |
| favorisiert man lieber eine Kunst, die ihre Rolle im aktivistischen | |
| Gebrauchswert sieht, eine „Systemrelevanz“ sicherstellt. | |
| Doch selbst die bestgemeinte Kunst kann nicht die Welt retten. Wie denn? | |
| Und auch die aktivistischste künstlerische Praxis bleibt auf Formen der | |
| Veranschaulichung angewiesen. Auch sie muss aushandeln und symbolisieren, | |
| um einen Daseinsgrund und vielleicht ein bisschen Aufmerksamkeit zu | |
| generieren. | |
| In Brüssel, im Kunsthaus WIELS, hat [1][Marc Camille Chaimowicz] mit „Nuit | |
| américaine“ nun eine Ausstellung eingerichtet, die in Sachen künstlerischer | |
| Künstlichkeit geradezu provokant daran erinnert, wie schön anders eine | |
| Kunst sein kann, wenn sie auf sich selbst hält, ohne „große“ Kunst sein zu | |
| müssen. | |
| Über drei Räume und mit vergleichsweise einfachen Mitteln entfaltet | |
| Chaimowicz, 1947 im Paris der Nachkriegszeit geboren und später nach London | |
| übergesiedelt, einen hochsubjektiven Rundgang. Dieser lässt sich auch als | |
| Lehrstück verstehen, wozu Kunst einerseits in der Lage ist und was sie | |
| andererseits nicht können muss. | |
| Als choreografiertes Ambiente eröffnet die Installation „Celebration? | |
| Realife“. Sie ist das aus allerhand trivial-mysteriösen Fund- und | |
| Flohmarktstücken, Büchern, Bildern und Zeitungsausrissen, Lämpchen und | |
| Bühnenscheinwerfern, langsam verblühenden Blumensträußen, Konfetti und | |
| Diskokugeln lose zusammengestellte, von Duft, Licht, Musik und Erinnerungen | |
| durchzogene Entrée zur Brüsseler Schau. | |
| ## Musterbeispiel queerer Ästhetik | |
| 1972, auf dem Höhepunkt der betont rationalen Conceptual Art, wurde das | |
| Ensemble erstmals im Glam-Rock-begeisterten London präsentiert. | |
| Mittlerweile ist es ein Musterbeispiel queerer Ästhetik, Chaimowicz brachte | |
| es dann 2000 zu seiner aktuell aufgeführten Form. Die silbern gestrichenen | |
| Wände erinnern an Warhols berühmte Factory, aber auch daran, dass ein | |
| bisschen Chic im Partykeller selbst unter widrigen Umständen leicht zu | |
| haben ist. Nostalgie ist hier eh schwer zu vermeiden. | |
| Halb Bühne, halb offen gelegte Lebens- und Arbeitssituation ist „The Hayes | |
| Court Sitting Room“ (1979–2023) eine Art Reliquie. In diesem Raum mit | |
| handgemachten Tapeten, dem sorgsam ausgewählten, teils selbst entworfenen | |
| Mobiliar, den Büchern und Bildern, dem Tisch mit Alkoholika hat der | |
| Künstler jahrzehntelang gelebt. | |
| Jetzt ist dieses Environment in vier Teile zerschnitten, die Wände wie ein | |
| Filmset aufgefächert, die abgenutzten Requisiten dabei fast aufdringlich | |
| real exponiert und dennoch künstlich entrückt. Wie bei echten Reliquien | |
| auch bleibt Nicht-Eingeweihten unklar, wo ihr Nutzen, wo ihr Wert liegt – | |
| was ihre Aura nicht schmälern muss. | |
| Zuletzt zeigt Chaimowicz eine Art Briefroman, eine während der Pandemie am | |
| Küchentisch entstandene Collage. Adressiert an die Kuratorin der Brüsseler | |
| Schau, Zoë Gray, identifiziert sich Chaimowicz in „Dear Zoë“ (2020–2023) | |
| mit [2][Gustave Flauberts] Romanfigur Emma, die berühmte Madame Bovary. | |
| Flaubert ließ seine Heldin in Bücher flüchten und die angelesene, fiktive | |
| Welt bis zur bitteren Tragödie nachleben. | |
| Und da genau verläuft jene Grenze, die zwischen der Wirklichkeit der Kunst | |
| und all den anderen Realitäten vermittelt. Dank der Kunst aber lässt sich | |
| auch ein Gespür dafür entwickeln, auf welcher Seite man selber gerade ist. | |
| 28 Apr 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Hans-Jürgen Hafner | |
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