| # taz.de -- Mikrobiom im Darm: Jeder Mensch ist ein Biotop | |
| > In unserem Dickdarm leben Milliarden Mikroorganismen und arbeiten | |
| > zusammen. Dieses Mikrobiom ist so individuell wie ein Fingerabdruck. | |
| Bild: Zotten und Mikroorganismen des Darms im Foto | |
| Zu Beginn des Jahrtausends verfolgte die Menschheit gespannt den Wettlauf | |
| zur Entschlüsselung des menschlichen Erbguts. Da war zum einen der | |
| Unternehmer Craig Venter, zum anderen das 3 Milliarden Dollar teure | |
| [1][Human Genome Project], an dem 1.000 Wissenschaftler*innen aus 40 | |
| Ländern mitarbeiteten. Beide kamen fast gleichzeitig ins Ziel – und die | |
| allgemeine Überraschung war groß. Nicht nur ist die Menschheit zu 99,9 | |
| Prozent genetisch identisch. Auch besteht unser Erbgut lediglich aus etwas | |
| mehr als 25.000 Genen. Bei einem Wasserfloh wurden später gut 31.000 Gene | |
| gefunden. | |
| Die Einsicht, dass sich unsere Komplexität wohl kaum auf diese Weise | |
| erklären lässt, trug ebenso zu einem Quantensprung der Erkenntnisse bei wie | |
| neue DNA-Sequenzierungstechniken. Mit denen lässt sich seit gut zehn Jahren | |
| das Mikrobiom erforschen. | |
| Das Mikrobiom ist das Zusammenspiel der vielen Milliarden Bakterien, Viren | |
| und anderen Kleinstlebewesen, die den Menschen besiedeln. Hotspot im | |
| menschlichen Körper ist der Dickdarm: Hier finden sich 99 Prozent der | |
| Wesen, die uns als Lebensraum nutzen. Sie verfügen über ein riesiges | |
| Arsenal von Enzymen, die die Stoffwechselmöglichkeiten des menschlichen | |
| Körpers um ein Vielfaches erweitern. | |
| Das Mikrobiom jedes Menschen ist so individuell wie ein Fingerabdruck. | |
| Zusammengerechnet wiegen die uns besiedelnden Kleinstlebewesen etwa ein | |
| Kilogramm. „Schon über tausend Arten sind nachgewiesen. Es gibt | |
| Konkurrenzen und Kooperationen, manche Arten ergänzen sich oder liefern | |
| sich Stoffe zu. Im Grunde muss man sich das vorstellen wie einen Wald mit | |
| seinen vielen verschiedenen Pflanzen, Tieren, Pilzen und Kleinorganismen“, | |
| sagt Richard Lucius von der Berliner Humboldt-Universität. Der emeritierte | |
| Professor ist Autor des Buchs „[2][Die Kraft unseres inneren Ökosystems]“. | |
| ## Zusammensetzung des Mikrobioms | |
| Die Lebensmittelchemikerin Theda Bartolomaeus nutzt die | |
| DNA-Sequenzierungstechnik bereits heute für ihre tägliche Arbeit. Sie | |
| gehört zu einem Forschungsteam am Experimental and Clinical Research Center | |
| (ECRC) in Berlin-Buch, das die Charité und das Max-Delbrück-Zentrum für | |
| molekulare Medizin gemeinsam betreiben. Die Wissenschaftler*innen | |
| untersuchen die Zusammensetzung des Mikrobioms und wollen verstehen, wie | |
| das mit Stoffwechselkrankheiten, Krebs und neurologischen Störungen | |
| zusammenhängt. | |
| Dafür untersucht Bartolomaeus Stuhlproben. Kot enthält tote und noch | |
| lebende Bakterien, die ein guter Spiegel dafür sind, was im Darm los ist, | |
| erklärt die 31-Jährige. Die Probanden müssen dafür ein Kackebröckchen in | |
| eine kleine Glasröhre füllen, in der eine Flüssigkeit die Zusammensetzung | |
| konserviert. Bartolomaeus pipettiert, reinigt, zentrifugiert und | |
| homogenisiert den Inhalt in einem vorgegebenen Prozess. | |
| Nach etwa zehn Minuten kann sie eine farblose Flüssigkeit an ein | |
| Sequenzierungslabor schicken. Dort wird ein winziger Tropfen auf ein | |
| Messgerät aufgebracht und der Computer gleicht die Gensequenzen mit einer | |
| Datenbank ab. Für etwa 30 Euro bekommt das ECRC eine Datei mit den | |
| gefundenen Bakterien geliefert. Die Liste zeigt: Manche Arten sind nur | |
| einmal vertreten, andere mehrere Tausend Mal. Aus größeren Datenmengen | |
| versuchen die Forschenden, Muster bei der Zusammensetzung des Mikrobioms zu | |
| erkennen, die mit bestimmten Krankheiten einhergehen. | |
| ## Essen, Bewegung und Klimawandel haben Einfluss | |
| Allerdings enthält das Dokument auch viele Fragezeichen. In diesen Fällen | |
| konnte der Computer lediglich die Bakterienfamilie herausfinden oder die | |
| [3][DNA] erst einmal gar nicht zuordnen. „Es gibt noch ziemlich viele | |
| Lücken. Was nicht in der Datenbank hinterlegt ist, kann nicht identifiziert | |
| werden“, fasst Bartolomaeus zusammen. | |
| Sie sieht die ungeheure Komplexität ihres Forschungsgegenstands: „Die | |
| Evolution bei Bakterien ist extrem schnell, das Mikrobiom verändert sich | |
| dauernd. Essen, Bewegung aber auch Klimawandel oder der Boden haben | |
| Einfluss. Selbst wenn wir alles identifizieren könnten, hätten wir immer | |
| nur eine Momentaufnahme“, sagt die junge Forscherin. | |
| Die neue Untersuchungsmethode brachte ans Licht, dass naturnah lebende | |
| Menschen eine diversere Darmbewohnerschaft haben als die Bevölkerung von | |
| Metropolen. Vor allem die ersten drei Lebensjahre sind entscheidend für die | |
| bakterielle Grundausstattung. „Ein artenreiches Mikrobiom schützt vor | |
| allergischen Erkrankungen“, erklärt Lucius. Auch chronische | |
| Darmentzündungen, Schuppenflechte und Multiple Sklerose sind mit der | |
| Ausbreitung des westlichen Lebensstils assoziiert. | |
| Der hat zwar Sanitäranlagen in jede Wohnung und eine hohe Lebenserwartung | |
| durch medizinische Versorgung gebracht. Zugleich gehen damit aber auch | |
| viele hochverarbeitete Lebensmittel und wenig natürliche Ballaststoffe in | |
| der Nahrung einher. In der Folge hungert und verarmt das Mikrobiom im | |
| Dickdarm. Außerdem spielt sich unser Alltag vorwiegend in Innenräumen ab | |
| und ist bewegungsarm, was der Vielfalt der inneren Wohngemeinschaft | |
| ebenfalls nicht gut tut. | |
| ## Aussterbende Bakterien | |
| So erklärt sich der Biologe Lucius im Nachhinein die Studienergebnisse aus | |
| den 1990er Jahren aus Karelien, einer dünn besiedelten Region in Finnland | |
| und Russland mit genetisch ähnlicher Bevölkerung. „In dieser Grenzregion | |
| treffen das Computerzeitalter und Subsistenzwirtschaft auf engstem Raum | |
| aufeinander“, beschreibt Lucius das Reallabor. Während auf der finnischen | |
| Seite vor allem jüngere Menschen häufig an Heuschnupfen und Erdnussallergie | |
| leiden, gibt es dieses Phänomen auf der russischen Seite kaum. Auch bei | |
| Typ-1-Diabetes ist der Unterschied immens. | |
| Vieles spricht dafür, dass ein erheblicher Teil der Bakterien, die einst | |
| menschliche Därme bevölkerten, schon ausgestorben ist. Das legen | |
| menschliche Exkremente nahe, die bei archäologischen Ausgrabungen gefunden | |
| wurden. Diese uralten, versteinerten Würste können nicht nur viel darüber | |
| erzählen, was jemand vor Tausenden von Jahren gegessen hat. Auch das | |
| Mikrobiom seines Darms lässt sich daraus oft noch rekonstruieren. Deutlich | |
| wird: Unsere Vorfahren waren von einer wesentlich größeren | |
| Bakterienvielfalt besiedelt, als wir es heute sind. | |
| Einige Unternehmen lassen bereits eifrig Kotproben aus aller Welt sammeln, | |
| um das Mikrobiom darin zu untersuchen und in der Hoffnung, sie für neue | |
| Medikamente und Therapien nutzbar zu machen. Bei | |
| Clostridium-difficile-Infektionen werden bereits heute erfolgreich | |
| Stuhltransplantationen eingesetzt, bei anderen Darmerkrankungen wie Morbus | |
| Crohn ist das jedoch nicht so einfach. | |
| ## Mikrobiom von Indigenen retten, bevor sie verloren gehen | |
| Mehrere Initiativen wollen nun auch Stuhlbanken einrichten. Vorbild für das | |
| am weitesten vorangeschrittene Projekt Microbiota Vault ist der | |
| Saatguttresor auf Spitzbergen, in dem Samen von vielfältigen Nutzpflanzen | |
| lagern, um sie in die Zukunft zu retten. Auf ähnliche Weise soll ab 2028 | |
| auch das menschliche Mikrobiom archiviert werden. | |
| Beteiligt sind viele internationale Forschungseinrichtungen, darunter auch | |
| die Universität Kiel. Ziel sei die „Identifizierung, Sammlung und | |
| dauerhafte Konservierung einer möglichst großen Bandbreite von | |
| Mikroorganismen […], bevor diese unter dem zunehmenden Einfluss | |
| zivilisatorischer Faktoren wie beispielsweise der Antibiotikaübernutzung | |
| oder ungesunder Ernährung für immer verloren gehen“, heißt es auf deren | |
| Homepage. Zynisch könnte man sagen: Das Mikrobiom von Indigenen soll | |
| gerettet werden, bevor sie es aufgrund einer modernen Lebensweise | |
| verlieren. | |
| 15 May 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.genome.gov/human-genome-project | |
| [2] https://www.scorpio-verlag.de/Buecher/447/DieKraftunseresinnerenkosystems.h… | |
| [3] /DNA-Entdeckung-beruht-auf-Ideendiebstahl/!5927364 | |
| ## AUTOREN | |
| Annette Jensen | |
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