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# taz.de -- Viren als Heilmittel: Bakterien auf dem Speiseplan
> Bakteriophagen sind Viren, die Bakterien fressen. Sie könnten in Zukunft
> eine Rolle bei der Bekämpfung von resistenten Keimen spielen.
Bild: Ein Virus gegen viele Krankheiten. Die Bakteriophagen auf der Oberfläche…
Spätestens seit der Coronapandemie sind Viren die weltweiten Erzfeinde
schlechthin. Kein Wunder, schließlich sind Ebola-, HI- oder
Vogelgrippe-Viren für zahlreiche Todesfälle verantwortlich. Die Spanische
Grippe, ausgelöst durch ein Influenza-Virus, soll während des Ersten
Weltkriegs und danach zwischen 20 und 100 Millionen Menschen das Leben
gekostet haben. Heute sehnen sich immer mehr Menschen nach einer keimfreien
Welt, wie das Zukunftsinstitut berichtet.
Zu dieser Angst vor Krankheitserregern, „Germophobia“ genannt, tragen auch
die Probleme mit Antibiotikaresistenzen bei. Denn vielfach können
Antibiotika gegen gefährliche Bakterien nichts mehr ausrichten. Tatsächlich
aber könnten gerade Viren dazu dienen, einen Teil der Immunisierung von
Bakterien abzumildern. Wie soll das gehen?
Vor allem die sogenannten Bakteriophagen, also „Bakterienfresser“, sind die
neuen Hoffnungsträger in der Medizin. Bakteriophagen zählen wie alle Viren
nicht zu den Lebewesen, da sie im Gegensatz zu Bakterien keinen eigenen
Stoffwechsel haben. Das Besondere an ihnen: Sie befallen nicht nur
tierische oder pflanzliche Zellen, sondern suchen sich Bakterien als Wirte.
Die Phagen dringen in die Bakterienzelle ein, wo sie entweder im Erbgut
integriert schlummern oder sich von der Maschinerie des bakteriellen
Erbmaterials vervielfältigen lassen und dann das Bakterium von innen
zerstören, womit ein Vielfaches an Viren und auch Nährstoffe freigelassen
werden. Das ist ein ganz anderer Weg, als die Wirkung von herkömmlichen
Antibiotika. Deshalb funktionieren die Phagen selbst dann, wenn die
Bakterien bereits eine Resistenz entwickelt haben.
Erst kürzlich startete [1][eine Anwendungsstudie im Rahmen des
„Phage4Cure“-Projekts, an dem verschiedene deutsche Forschungseinrichtungen
beteiligt sind]. Das Projekt läuft sei 2017 und wird durch das
Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert. In der aktuellen
Studie werden Phagen erstmals in Deutschland kontrolliert an Menschen
getestet. Das Team vom Fraunhofer-Institut für Toxikologie und
Experimentelle Medizin (ITEM), darunter die Biotechnologin Sarah Wienecke,
haben den Wirkstoff hergestellt. „Das Mittel soll bei
Mukoviszidose-Patienten Infektionen mit dem Bakterium Pseudomonas
aeruginosa bekämpfen, es wird darum inhaliert“, sagt die Leiterin des
Projekts.
## Zulassung fehlt
Mukoviszidose ist eine Stoffwechselerkrankung, bei der sich in Lungen aber
auch im Verdauungstrakt zäher Schleim bildet. Sind die Lungen befallen,
kann dies zu chronischem Husten, regelmäßigen Infekten und Atemnot führen.
„Bei Mukoviszidose-Patienten verschlechtert Pseudomonas aeruginosa die
Lungenfunktion, und dieser Keim ist von Natur aus gegen eine Vielzahl von
Antibiotika resistent,“ sagt Wienecke.
Bislang ist weder in der EU noch in den USA ein Phagenwirkstoff zugelassen.
Dabei ist die Forschung an diesem Thema alles andere als neu. Bereits vor
100 Jahren hat man das Potenzial der Bakterienfresser erkannt. Félix
d’Hérelle, Forscher am Institut Pasteur in Paris hat schon im Jahr 1917
Phagen entdeckt und sie dann an Bakterien getestet, die Durchfall auslösen.
Weil er von der Ungefährlichkeit fest überzeugt war, soll er eine
phagenhaltige Flüssigkeit selbst getrunken haben. Und tatsächlich soll
d’Hérelle danach keinerlei Nebenwirkungen verspürt haben.
D’Hérelle wurde nach seinen Behandlungserfolgen von russischen Diktator
Josef Stalin höchstpersönlich nach Georgien eingeladen, um mit dem
Bakteriologen Georgi Elieva am neu gegründeten Institut für Phagenforschung
in Tiflis zusammenzuarbeiten. Seither kamen die Arzneien in den Ländern der
ehemaligen Sowjetunion immer wieder zum Einsatz, im Zweiten Weltkrieg gegen
Wundbrand, gegen lebensgefährlichen Durchfall oder auch gegen regional
auftretende Pestepidemien.
Bis heute wird die Phagentherapie in Russland, in Georgien, in der
Ukraine oder auch in Polen verordnet. In der georgischen Hauptstadt Tiflis
findet sich die größte Phagenbank der Welt.
Im Westen setzte sich das Wissen jedoch nicht durch. Man vertraute viele
Jahrzehnte lieber auf Antibiotika. Doch die Waffen werden zunehmend stumpf,
da lebensrettende Arzneien gegen Bakterien vielfach in der Tierhaltung und
auch in der Humanmedizin zum Einsatz kommen, wo sie gar nicht unbedingt
nötig wären. Dadurch sind Bakterien ständig Antibiotika ausgesetzt und
können Resistenzen bilden.
Zwar zeichnet sich ein Rückgang der Antibiotika-Nutzung in Deutschland und
Europa ab. So ist der Gesamtverbrauch in der Humanmedizin von 2012 bis 2021
um fast ein Viertel gesunken, und laut Daten des Robert-Koch-Instituts
konnte bei den wichtigsten multiresistenten Keimen ein leichter Rückgang zu
den Vorjahren verzeichnet werden. Jedoch ist die Anzahl der Bakterien, die
wie Staphylococcus aureus oder Pseudomnonas aeruginosa gegen mehrere
Antibiotika resistent sind, immer noch gefährlich hoch. Weltweit sterben
jährlich 1,3 Millionen, in Europa 33.000 Menschen wegen einer nicht
behandelbaren bakteriellen Infektion.
Wenn die Phagentherapie schon in einigen Ländern etabliert ist, warum
braucht es dann überhaupt noch Anwendungsstudien? „Die Nachweise für eine
klinische Wirksamkeit fehlen komplett“, sagt Dirk Bumann, Biochemiker und
Infektionsbiologe an der Universität Basel. „Es gibt nur
Einzelfallberichte, die spektakulär sind.“ Deshalb sollen in der derzeit
laufenden Humanstudie in Deutschland zur Phagentherapie auch mögliche
Nebenwirkungen erfasst werden. Theoretisch könnten Phagen gegen jede
bakterielle Infektion wirksam sein. Untersucht wird die Arznei aktuell
etwa gegen Harnwegsinfekte, Mandelentzündung, bei Diabetischem Fuß oder
Gelenkinfektionen.
## Wenig gewinnbringende Forschung
Doch bis es eine Zulassung von Phagenarzneien in Europa gibt, wird es wohl
noch dauern. Zwar nimmt in vielen westlichen Ländern die Erforschung seit
etwa zehn Jahren an Fahrt auf. In Deutschland findet sich mittlerweile die
zweitgrößte Phagenbank am Leibniz-Institut DSMZ mit rund 700 Phagenarten.
Extrahiert werden die untersuchten Keime zum Beispiel aus Abwässern. Aber
die deutsche Arbeitsgruppe legte kürzlich Probleme offen, die eine bessere
Erforschung und Zulassungsverfahren erschweren: Es fehle an Unternehmen,
die Phagenarzneien in größeren Mengen herstellen können, trotz effizienter
Vernetzung.
Große Pharmafirmen forschen in dem Bereich wenig, da die Entwicklung der
Phagentherapien letztendlich wenig gewinnbringend ist. Denn: Phagen dringen
nur sehr spezifisch in Bakterienstämme innerhalb einer Art ein, daher
müsste man viele Arzneien entwickeln, die dann nur wenigen Patientinnen und
Patienten helfen. „Das ist teuer, weil es individualisierte Medizin
ist“, sagt Bumann. Zudem vereitelten Vorschriften oft den Austausch von
Phagen zwischen Phagenbanken.
Doch Phagen könnten nicht nur [2][gegen multiresistente Keime helfen,
sondern auch bei anderen Erkrankungen], etwa im Darm, hilfreich sein. Die
Viren [3][leben ganz natürlich in unserem Mikrobiom], schätzungsweise
zehnmal mehr Viren als Bakterien gibt es hier. Die bislang im menschlichen
Darm entdeckten Viren gehören zu 90 Prozent zur Gruppe der Bakteriophagen.
Bei der chronisch-entzündlichen Krankheit Morbus Crohn etwa sind Bakterien
der Art Escherichia coli in einer krankhaft großen Anzahl im Darm zu
finden.
Es wird deshalb diskutiert, ob Bakteriophagen, die die E. colis im Visier
haben, die Krankheit lindern könnten. Bislang stehen zur Behandlung von
Morbus Crohn vor allem Arzneien mit starken Nebenwirkungen zur Verfügung.
Auch bei Leberkrankheiten wie Fettleber und Zirrhose könnten Phagen zum
Einsatz kommen, da hier auch krankhaft veränderte Muster im Mikrobiom
beobachtet wurden. Gleiches gilt für die „atopische Dermatitis“, eine
allergische Hautkrankheit. Angriffsziel sind hier Bakterien wie
Staphylococcus aureus auf der Haut, die zum Krankheitsgeschehen beitragen.
Generell zeigen die Forschungsanstrengungen, dass Viren nicht nur Feinde
des Menschen sind, sondern vor allem die Bakteriophagen vielleicht sogar
Freunde. „Die Erfolgsgeschichte der Viren begann vor mehr als 3,5
Milliarden Jahren“, schreibt die emeritierte Virologin Karin Mölling, im
Buch „Supermacht des Lebens“. Sie plädiert für eine neue Sicht. Denn Viren
sind überall, im Meer, in Pflanzen, in Tieren. Auf jeden Fall sind sie mit
Abstand die häufigsten biologischen Elemente auf diesem Planeten.
Beispielsweise sollen 98 Prozent der Ozeanmasse aus Viren bestehen. „Die
meisten Viren machen gar nicht krank“, schreibt Mölling.
Korrekturhinweis: In einer früheren Version des Textes stand, das der
Pest-Erreger ein Virus sei. Es handelt sich aber um ein Bakterium. Außerdem
stand in der früheren Version, dass Phagen in die Bakterienzelle
eindringen, und dort „Myriaden an Viren“ und Nährstoffe freigelassen
werden. Tatsächlich handelt es sich aber um ein „Vielfaches an Viren“.
Weiter stand in der früheren Version, dass Bakteriophagen wie alle Viren
keinen Zellkern besitzen und deshalb nicht zu den Lebewesen zählen. Richtig
ist: Bakteriophagen zählen wie alle Viren nicht zu den Lebewesen, da sie im
Gegensatz zu Bakterien keinen eigenen Stoffwechsel haben. Wir haben die
Fehler korrigiert.
24 Nov 2023
## LINKS
[1] https://phage4cure.de/de/
[2] /Phagen-als-Alternative-zu-Antibiotika/!5950454
[3] /Mikrobiom-im-Darm/!5930657
## AUTOREN
Kathrin Burger
## TAGS
Schwerpunkt Coronavirus
Viren
multiresistente Keime
Heilmittel
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Naturwissenschaft
Zukunft
Darm
Bakterien
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