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# taz.de -- Pressefreiheit in Lettland: Pluralismus oder Propaganda
> In Riga sind russische Journalist*innen wegen Propaganda angeklagt.
> Auch für oppositionelle Journalist*innen wird es in Lettland
> schwieriger
Bild: Russischstämmige Publizist*innen demonstrieren im März für Meinungsfre…
Für große Aufmerksamkeit sorgt dieser Tage ein Prozess in der lettischen
Hauptstadt Riga. Vor Gericht müssen sich 16 Journalist*innen
verantworten, der Vorwurf lautet auf Verstoß gegen EU-Sanktionen. Darauf
stehen bis zu vier Jahre Haft.
Alle Angeklagten arbeiten für die Websites Sputnik und Baltnews. Beide
Nachrichtenportale sind seit 2016 beziehungsweise 2019 in Lettland
blockiert. Ihre Tätigkeit stelle eine Bedrohung der Sicherheit Lettlands
dar. Die Berichte unterstützten und rechtfertigten Russlands Vorgehen im
Krieg gegen die Ukraine und wiegelten systematisch zu nationalem Hass auf,
hatte die lettische Medienaufsichtsbehörde NEPLP zur Begründung angegeben.
Im Dezember 2020 führte der lettische Geheimdienst bei Sputnik und Baltnews
sieben Razzien durch. Dabei wurden Computer, Mobiltelefone und Archive der
Mitarbeitenden, darunter auch persönliche Unterlagen, beschlagnahmt.
Sputnik und Baltnews gehören zu der russischen staatlichen
[1][Medienholding Rossija Segodnja] (Russland heute, RS), die 2013 per
Dekret von Russlands Präsidenten Wladimir Putin gegründet wurde, ihren Sitz
in Moskau hat und im vergangenen Februar auf die EU-Sanktionsliste
gesetzt wurde. Generaldirektor von Rossija Segodnja ist Dmitri Kisseljow,
Journalist und einer der führenden Propagandisten des Kreml. Er ist der
einzige russische Medienmacher, den Brüssel 2014 im Zusammenhang mit
Moskaus völkerrechtswidriger Annexion der Krim mit persönlichen
Strafmaßnahmen belegt hatte.
## Chiffre von der Nichtexistenz der Ukraine
Schon damals klärte Kisseljow sein Publikum kompetent darüber auf, dass es
die Ukraine nicht gebe. Die Ukraine sei ein virtueller Begriff, ein
virtuelles Land und ein gescheiterter Staat. Die Chiffre von der
Nichtexistenz der Ukraine – verstanden als Lizenz, um den Staat von der
Landkarte und die Identität der Ukrainer*innen als solche zu tilgen –
ist ein gängiges Narrativ von Politiker*innen in Russland, um die
sogenannte militärische Spezialoperation gegen den Nachbarn zu
rechtfertigen.
In dieser Mission an vorderster Front unterwegs sind auch Sputnik und
Baltnews. In einer speziellen Rubrik unter dem Titel „Wiedergeburt des
Donbass“ können sich russischsprachige Leser*innen bei Baltnews über
Moskaus segensreiches Wirken in den besetzten Teilen der Ukraine auf dem
Laufenden halten. Der Wiederaufbau neuer Regionen sei keine Belastung für
den russischen Haushalt, sondern eine langfristige Quelle für Wachstum. Das
wirtschaftliche Potenzial des Donbass sowie von Cherson und Saporischschja
werde Russlands wirtschaftlichen Triumph sichern, ist dort zu lesen.
Auch über das Gerichtsverfahren in Riga wird ausführlich informiert. „Auf
der Grundlage niederträchtiger Gesetze: In Lettland beginnen Prozesse gegen
Journalist*innen von Baltnews und Sputnik“, lautet der Titel eines
Beitrags, darunter das Foto einer lettischen Flagge mit der Aufschrift
„Stoppt das harte Vorgehen gegen Journalisten in Lettland“. Eine andere
Abhandlung ist überschrieben mit „Der Fall lettischer Journalisten – Ein
Massaker, das der Westen genehmigt hat“.
Der Prozess dürfte sich in die Länge ziehen, da die Causa auf Beschluss der
Staatsanwaltschaft in getrennten Verfahren, insgesamt 14, verhandelt wird.
Zum Auftakt letzten Dienstag musste der Journalist Wladimir Dorofejew auf
der Anklagebank Platz nehmen. Er wies jede Schuld von sich und sprach von
einem fabrizierten Prozess gegen ihn sowie seine Kolleg*innen, der an
„Lynchjustiz“ erinnere.
Dorofejew ist Mitunterzeichner einer Presseerklärung, die auch an Medien im
Ausland verschickt wurde. „Wir glauben, dass dieser Fall politisch
motiviert ist und gegen die Grundprinzipien der Meinungsfreiheit und viele
weitere Gesetze verstößt. Das Ziel ist, russischsprachige
Journalist*innen einzuschüchtern und ihnen damit faktisch ihre
berufliche Tätigkeit zu verbieten“, heißt es darin.
## Russisches Narrativ: Verbot von RT verletze die Pressefreiheit
Derartige Vorwürfe an die Adresse Lettlands, wo Russ*innen mit rund 27
Prozent der knapp zwei Millionen Einwohner*innen die mit Abstand größte
Minderheit stellen, sind nicht neu. Ähnlich äußerte sich 2020 auch die
Internationale Journalisten-Föderation (IFJ), nachdem die Behörden bei dem
russischen Auslandssender RT – auch er gehört zu Rossija Segodnja – den
Stecker gezogen hatten. Das Verbot von RT verletze die Pressefreiheit und
das Recht der Bürger*innen auf Medienpluralismus. Das sei ein klarer Akt
von Zensur. Daher müsse die Entscheidung unverzüglich aufgehoben werden, so
IFJ-Generalsekretär Anthony Bellanger.
Bei dieser Forderung blieb es, stattdessen greift die NEPLP mit voller
Härte durch. Das bekamen jetzt auch oppositionelle russische Medien wie der
TV-Sender Doschd zu spüren. Um angesichts wachsender Repressionen die
Arbeit fortsetzen zu können, waren die Mitarbeitenden des Senders kurz nach
Beginn von Moskaus Angriffskrieg gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 nach
Lettland übergesiedelt. [2][Am 2. Dezember 2022 kassierte die NEPLP die
Lizenz. Z]u Steinen des Anstoßes waren russischsprachige Beiträge ohne
lettische Untertitel, die Einblendung einer Russlandkarte inklusive der
Krim sowie der Kommentar eines Moderators geworden. Dieser hatte über die
russischen Truppen als „unsere Armee“ gesprochen.
Kritik ließ nicht lange auf sich warten. Von dem russischen Youtuber Ilja
Warlamow, der seine Heimat ebenfalls verlassen hat, ist der Ausspruch
überliefert, Lettland werde vielleicht das schaffen, was Putin in zehn
Jahren nicht gelungen sei: Doschd abzuschalten. Seit Anfang 2023 sendet
Doschd aus Amsterdam.
## Russland-kritische Journalist:innen fliehen nach Lettland
Wie angespannt die Lage ist, erfahren auch andere regimekritische russische
Journalist*innen, die in Lettland Zuflucht gesucht haben. Die
Nichtregierungsorganisation Media Hub in Riga, eine Anlaufstelle für
politisch verfolgte Journalist*innen, beziffert deren Zahl auf 350. Sie
haben mit dem Visum D, das aus humanitären Gründen erteilt wird, zwar einen
gültigen Aufenthaltstitel. Dieser erlaubt jedoch nicht die Aufnahme einer
geregelten Arbeit – ein existenzielles Problem, sobald Spendengelder
ausbleiben. Mittlerweile ist Media Hub in einzelnen Fällen mit Hilfe
suchenden Kolleg*innen konfrontiert, die suizidgefährdet sind.
Auch der Journalist Deniz, der seinen Nachnamen nicht nennen möchte und
seit knapp über einem Jahr im lettischen Exil lebt, ist ein häufiger Gast
bei Media Hub. In Russland ist er als „ausländischer Agent“ gelabelt, eine
Rückkehr in sein Heimatland daher ausgeschlossen. Ob und wie es für ihn in
Riga weitergeht, weiß er nicht. Russische Propaganda in den Medien, das
gehe gar nicht, sagt er auf die Frage nach dem aktuellen Gerichtsprozess.
Die Mitarbeiter von Sputnik seien Propagandisten. Allerdings sei dieser
Vorgang für Lettland eine Frage des Ansehens, denn in der EU werde dem Land
oft vorgeworfen, die Meinungsfreiheit zu unterdrücken. „Ich denke, dass die
strafrechtliche Verfolgung dieser Propagandisten einerseits Werbung für sie
macht und andererseits der lettischen Regierung schadet“, sagt er.
Der russische Journalist Alexei Schischkin verfolgt die Ereignisse in
Lettland von Estland aus. Seit vergangenem Jahr lebt er in Tallinn, eine
Rückkehr nach Russland ist für ihn derzeit ebenfalls keine Option. Dabei
hat sich auch in Estland die Gangart gegenüber zugezogenen Russ*innen
merklich verschärft. Selbst jemand, der wie Schischkin eine einträgliche
Arbeit gefunden hat, kann nicht sicher sein, dass die
Aufenthaltsgenehmigung verlängert wird. Einen Angriff auf die
Meinungsfreiheit vermag er in dem Rigaer Journalist*innenprozess nicht
zu erkennen.
Die Betroffenen seien keine Journalist*innen, da sie sich nicht an
Standards hielten. „Diese Leute können nicht die Vorteile einer offenen
Welt in Anspruch nehmen, wenn sie gleichzeitig deren Werte und Regeln nicht
akzeptieren. Dieses Gericht sollte als regulärer Prozess gegen Personen
angesehen werden, die Wirtschaftssanktionen verletzt haben“, sagt
Schischkin. Allerdings müsse der Öffentlichkeit der Unterschied zwischen
Journalismus und Propaganda erklärt werden, um sich Letzterer widersetzen
zu können.
14 Apr 2023
## LINKS
[1] /Russlands-Defensive-in-der-Ukraine/!5881256
[2] /Riga-entzieht-Doschd-die-Lizenz/!5898554
## AUTOREN
Barbara Oertel
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