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# taz.de -- Foto-Ausstellung in Berlin: Europas Nabel wandert
> Die Fotografin Patricia Morosan begab sich auf die Suche nach dem
> Mittelpunkt Europas. „(I) Remember Europe“ ist in der Galerie Franzkowiak
> zu sehen.
Bild: „Europe Park“, 2018, von Patricia Morosan, zeigt eine gefallene Lenin…
Lenin liegt quer im Raum. Man kann sagen, er beherrscht ihn noch im Sturz.
Der gefallene Staatsgründer hängt im Hochformat, 100 mal 70 Zentimeter,
links neben dem Tresen der Galerie Franzkowiak im Untergeschoss der
Friedrichstadtpassagen in Mitte.
Patricia Morosan hat eine der zahlreichen Lenin-Statuen fotografiert, die
bis in die Neunzigerjahre in Mittel- und Osteuropa standen. Morosan ist
dafür nach Joneikiškės gefahren, tausend Kilometer von Berlin, siebzehn von
der litauischen Hauptstadt Vilnius entfernt. In Joneikiškės hat der
Bildhauer Gintaras Karosas 1991 mit dem Europos Parkas ein Museum und einen
Skulpturenpark für zeitgenössische Bildhauerei, Konzept- und
Installationskunst eingerichtet.
Der Lenin am Boden gehört dazu. Hinter ihm, er scheint aus dem Bild
herausweisen zu wollen, sind ein Dutzend tote Fernsehapparate aufgetürmt.
Morosans dunkel getöntes Foto wirkt wie aus einer Inszenierung von Heiner
Müllers „Die Hamletmaschine“. Zum Ende des Theaterstücks aus dem Kalten
Krieg tritt Hamlet „in die Rüstung, spaltet mit dem Beil die Köpfe von Marx
Lenin Mao. Schnee. Eiszeit.“ Am Anfang des Totentanzes aus zerstörten
Idealen und ignorierter Geschichte steht Hamlet „an der Küste“, „im Rüc…
die Ruinen von Europa“.
Das Europa Patricia Morosans steht noch, dem Titel ihrer Ausstellung „(I)
Remember Europe“ zum Trotz. Morosan hat für ihre Arbeiten sieben
Ortschaften in Mittel- und Osteuropa bereist, die zu unterschiedlichen
Zeitpunkten als Mittelpunkt Europas angesehen wurden.
## Festgehalten in Schwarz-Weiß-Fotografien
Es sind der Stein von Suchowola in Polen – die erste offizielle Erklärung
über Europas Mitte von 1775 –, dann das Denkmal an der
deutsch-tschechischen Grenze auf dem Tyllenberg (Dylen), das litauische
Purnuškėsunweit von Karosas’ Europos Parkas, Polotsk in Belarus, Dilowe in
der Ukraine, Mõnnuste auf der estnischen Insel Saaremaa und die
Bergbaustadt Kremnica in der Slowakei. Dass es das eine Zentrum des
Kontinents nicht gibt und dass das alles Orte sind, Dörfchen zumeist, die
kaum in den Nachrichten vorkommen, ist das Schöne daran.
Morosan hat Schwarz-Weiß-Fotografien dieser oft unspektakulären
Mittelpunktmarkierungen, ihre geografischen Koordinaten und Erläuterungen
rechts neben den Galerieeingang an die „theoretische Wand“ der Ausstellung,
wie die Künstlerin sie nennt, gehängt. Bei der Frage, was eigentlich den
jeweiligen Nabel Europas definiert, wird es interessant und politisch.
Kartografen sind kaum aus einer Wochenendlaune unterwegs, bei denen, die
die Mittelpunkte gesetzt haben, handelt es sich mit einer anonymen Ausnahme
um einen königlich-polnischen Astronomen, Abgesandte des
Österreichisch-Ungarischen Geographischen Instituts in Wien und staatlich
bestallte Wissenschaftler generell.
Entscheidend für das Finden der geografischen Mitte ist, erklärt Morosan,
wo man die äußersten Punkte Europas setzt, ob man den bloßen Kontinent zur
Berechnungsgrundlage nimmt oder die ihn umgebenden Inseln dazuzählt. Die
sieben verschiedenen Mittelpunkte Europas hat Morosan mit einer roten
Fadenstickerei, eine osteuropäische Tradition aufgreifend, auf den
individuell verschiedenen Einbänden des bibliophilen Künstlerbuches „(I)
Remember Europe“ verbunden.
## Partizipatives Projekt
Es stand am Anfang des Projekts, ist umfangreicher als die Ausstellung und
enthält neben den Fotografien mehr Bildmaterial, einen tagebuchartigen Text
Morosans, ein Vorwort der Kuratorin Sonia Voss und ein Essay der
Wissenschaftlerin Marta Jecu.
„(I) Remember Europe“ ist partizipativ angelegt. Zu dem Buch wie zur
Ausstellung gehören sieben Protagonisten aus jedem der sieben Mittelpunkte
Europas. Morosan hat Reena, Maciej, Teresa, Hasan, Olena, Elena und
Stanislav Einwegkameras gegeben und gebeten, ihr einen visuellen Brief zu
schreiben. Die Kontaktbögen und die 24 Bilder lassen entstehen, was Morosan
ein „multiples Narrativ“ nennt.
Die Porträtfotos der Beteiligten, die ihrer Landschaften und von
alltäglicher Arbeit, Freizeit, Unterwegssein, Architektur und Wetter bilden
ein europäisches Panorama, das den nüchternen Zeugnissen der Mittelpunkte
eine emotionale Farbigkeit zur Seite stellt.
Auf diesen Fotos hat Patricia Morosans Europa etwas von dem, was der
polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk in einem der schönsten Texte zu
dem Thema, seinem Essay „Mein Europa“, beschreibt: Stasiuk fährt dort mit
der Eisenbahn durch Mittel- und Osteuropa. [1][Er hört Lou Reed], liest
Joseph Roth und macht den Eindruck, als sei Sehen nichts Alltägliches,
sondern die Kunst, die es tatsächlich ist. Mit Patricia Morosans Fotos
lässt sich noch einmal sehen lernen.
Eines der Bilder – es steht mit am Anfang des Buches, in der Ausstellung
bildet es einen Ausblick – scheint abermals eine Figur in einem Raum zu
zeigen. Nur ist es kein Staatenlenker, sondern ein Mädchen, das rechts aus
dem Foto tanzen möchte. Im Buch steht die Auflösung: Es handelt sich um den
„Nordgautag“ in Wiesau, Bayern, einer Feier von Identität und Diversität.
„Flirting With Ghosts“ heißt das Foto und empfiehlt einen adäquaten Umgang
mit den Geistern.
11 Apr 2023
## LINKS
[1] /Unveroeffentlichte-Songs-von-Lou-Reed/!5875923
## AUTOREN
Robert Mießner
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