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# taz.de -- Krieg in der Ukraine: Frag mal Clausewitz
> Beim Streit über den Krieg kann ein Blick auf die Lehren des Carl von
> Clausewitz hilfreich sein. Der ist heute so aktuell wie zu seiner Zeit.
Bild: Der Krieg und dessen Komplexität war Clausewitz' Lebensthema
Der preußische General Carl von Clausewitz ist neben Sunzi aus dem alten
China vermutlich der weltweit bekannteste Theoretiker des Kriegs. Seit
Beginn der offenen russischen Aggression gegen die Ukraine wird Clausewitz,
der von 1780 bis 1831 lebte, wieder häufiger zitiert, aber leider immer
noch kaum gelesen und noch weniger verstanden. Fast jeder kennt zwar seine
berühmte „Formel“ vom Krieg als der „Fortsetzung der Politik mit anderen
Mitteln“.
Manche haben auch noch von der für sein Theoriegebäude grundlegenden
Zweck-Mittel-Relation gehört. Seine Überlegungen zur Komplexität und
Wandlungsfähigkeit des Phänomens Krieg, das er treffend als „wahres
Chamäleon“ charakterisiert hatte, sind hingegen selbst im Kreis der mit
Sicherheitsfragen befassten Politiker, Journalisten und Wissenschaftler
kaum näher bekannt oder werden von vornherein als obsolet abgetan und
ignoriert.
Unsere sicherheitspolitische Debatte leidet an einem grundlegenden
Strategiedefizit, das seinen deutlichsten Ausdruck in der Tendenz zur
eindimensionalen Betrachtung des nicht nur militärisch, sondern auch
[1][politisch hochkomplexen Konflikts um die Ukraine] findet. Das zeigt
sich seit einem Jahr in den seriellen Diskussionen zum Thema
Waffenlieferungen.
Egal ob es um westliche Artilleriesysteme, [2][Schützenpanzer], Kampfpanzer
oder derzeit Kampfflugzeuge geht, stets wird von den vehementen
Lieferungsbefürwortern die große, wenn nicht gar entscheidende Bedeutung
des jeweiligen Waffensystems betont. Immer wieder wird dann auch der
Begriff des Gamechangers ins Feld geführt, der der Ukraine zum erhofften
Sieg über die russischen Invasoren verhelfen könne.
## Nicht kriegsentscheidend
Hat sich die Bundesregierung dann in Abstimmung mit den Nato-Partnern zur
Lieferung entschlossen, wird erstaunlicherweise sofort der nächste
Gamechanger in die Diskussion gebracht. Bei einer solchen Argumentation
wird geflissentlich übersehen, dass noch kein Krieg in der Geschichte durch
einen einzigen Waffentyp entschieden wurde.
Das gilt umso mehr, wenn dieser nur in eher homöopathischer Dosis zur
Verfügung steht und überdies nicht auch die für einen nachhaltigen Einsatz
erforderlichen [3][Munitions- und Reparaturkapazitäten] bereitgestellt
werden. Umso fragwürdiger sind die diskursiven Leerstellen dahingehend,
welchen Effekt die westliche Militärhilfe im Hinblick auf die zeitnahe
Beendigung des Kriegs und die Wiederherstellung der territorialen
Integrität der Ukraine realistischerweise haben kann.
Die Probleme des sicherheitspolitischen Diskurses in Deutschland ebenso wie
im westlichen Bündnis insgesamt sind jedoch viel grundsätzlicherer Natur
und haben inzwischen gewissermaßen jahrzehntelange Tradition. In den von
den USA und ihren Verbündeten geführten Militäreinsätzen und Kriegen
begegnet man von Vietnam bis [4][Afghanistan] immer wieder einem Syndrom
aus drei Elementen.
Erstens sind die mit dem Einsatz verfolgten politischen Zwecke häufig
unklar oder unter den Bündnispartnern umstritten, was dann wiederum mit
Kompromissformeln kaschiert wird, die Interpretationsspielraum lassen. Wenn
jedoch der politische Zweck des Kriegs nicht klar ist, gestaltet sich die
Formulierung des strategischen Ziels im Krieg und die Entwicklung einer
stringenten militärischen Strategie und ihre erfolgreiche Umsetzung als
einigermaßen schwierig.
## Weder Weg noch Ziel
Mit Blick auf die Afghanistan-Mission der Bundeswehr sprach der Historiker
Klaus Naumann in diesem Zusammenhang treffend von einem „Einsatz ohne
Ziel“. Tatsächlich beschäftigen sich Politiker und Spitzenmilitärs zweitens
kaum noch mit Strategie, sondern vor allem mit Ressourcenallokation. Statt
darüber nachzudenken, was man auf welchem Weg und mit welchen Mitteln
erreichen will, geht es dann vorzugsweise darum, [5][wer wie viel Geld,
Waffen und Truppen bereitstellt].
Hinzu kommt schließlich drittens das Ressortdenken der beteiligten
militärischen und politischen Institutionen, die nicht selten geradezu
eifersüchtig über ihre Kompetenzbereiche wachen. In der Folge fehlt dann
zwischen der operativ-taktischen und der politischen Handlungsebene die
Strategie als verbindendes Element.
Der französische Philosoph Raymond Aron hatte bereits in den 1970er Jahren
– mit Blick auf den von den USA in Vietnam massiv geführten Luftkrieg – die
verbreitete Tendenz kritisiert, Krieg vom Mittel und nicht vom verfolgten
Zweck her zu denken. In den Jahren seit dem Ende des Kalten Kriegs hat sich
dieser letztlich auch apolitische Blick auf das Phänomen Krieg eher noch
verstärkt. Daran haben auch so einflussreiche Militärhistoriker wie John
Keegan und Martin van Creveld einen großen Anteil.
Beide setzten dem clausewitzschen Primat der Politik ein Primat des Kampfs
entgegen. Creveld ging sogar so weit, dass er einen Großteil des
Kriegsgeschehens jenseits der zwischenstaatlichen Kriege als
„nichtpolitisch“ betrachtete. Dieses auf staatliche Akteure und Regierungen
verengte Politikverständnis trug wesentlich dazu bei, dass die Rolle des
politischen Faktors in den Kriegen gegen nichtstaatliche und irreguläre
Akteure verkannt wurde und man sich stattdessen darauf konzentrierte, den
Gegner auf dem Gefechtsfeld – auf der taktischen Ebene – zu besiegen.
## Unberechenbare Dynamik
Von Vietnam über den Irak bis Afghanistan machten die USA und ihre
Verbündeten dabei immer wieder die gleichen Erfahrungen. Zwar hatten ihre
Truppen in allen größeren Gefechten gesiegt, doch am Ende des Kriegs war
man auf der strategischen und der politischen Handlungsebene gescheitert.
Clausewitz hingegen erkennt die Komplexität, die Mehrdimensionalität ebenso
wie die dem Phänomen Krieg eigene, unberechenbare Dynamik.
Gleichzeitig bietet er mit klar gehaltenen Begriffen und einer, seine
Theorie von der taktischen bis zur politischen Handlungsebene
durchziehenden Hierarchie von Zwecken und Mitteln ein effektives
Instrumentarium, um sich in diesem vordergründigen Wirrwarr
widerstreitender Elemente zurechtfinden zu können. Ein wesentliches Plus
seiner Theorie besteht außerdem darin, dass er die moralischen Kräfte,
[6][die Friktion] und die umfassende politische Bedingtheit des Kriegs in
seinen Überlegungen berücksichtigt.
Ausgangspunkt dafür war seine eigene Kriegserfahrung. An der Wende vom 18.
zum 19. Jahrhundert musste Carl von Clausewitz als junger Offizier erleben,
wie sich mit dem Wandel der politischen Verhältnisse infolge der
Französischen Revolution auch das Kriegsbild radikal veränderte.
Die dem Krieg eigene Komplexität und Wandlungsfähigkeit bildete fortan
gewissermaßen sein Lebensthema, dem er dann vor allem nach Ende der
Napoleonischen Kriege in seiner Zeit als Direktor der Allgemeinen
Kriegsschule in Berlin historische Studien zu mehr als 130 Feldzügen sowie
sein theoretisches Hauptwerk „Vom Kriege“ widmete.
Dabei setzten sich zwei wesentliche Erkenntnisse durch: Erstens, dass die
Theorie des Kriegs kein starres Regelwerk aus Geboten und Verboten sein
könne, und zweitens, dass die Unterschiedlichkeit der Kriege maßgeblich auf
die unterschiedlichen politischen Motive und Verhältnisse der beteiligten
Akteure zurückzuführen sei. Damit ging frühzeitig eine scharfe Kritik der
zeitgenössischen Kriegstheorie einher, die anhand weniger messbarer
Variablen quasi-mathematische Prinzipien für die Operationsführung
aufzustellen suchte.
Für Clausewitz musste eine solche Theorie über kurz oder lang in
Widerspruch mit der Realität geraten. Das lag vor allem an drei
Eigentümlichkeiten des Kriegs: den darin auftretenden „geistigen Kräften
und Wirkungen“, der „lebendigen Reaktion“ des Gegners mit der sich daraus
ergebenden Wechselwirkung zwischen den Kontrahenten sowie der „Ungewißheit
aller Datis“, die dafür sorgt, dass „alles Handeln“ im Krieg im Grunde �…
einem bloßen Dämmerlicht verrichtet“ wird.
Dementsprechend sei der Feldherr immer auch auf sein Talent und Glück
angewiesen, woraus Clausewitz schlussfolgerte: „Eine positive Lehre ist
unmöglich.“ Denn in dem Moment, wo die Akteure auf ihr Talent verwiesen
wären, müssten sie außerhalb des positiven Lehrgebäudes handeln. In der
Konsequenz kann die Theorie daher nur eine „Betrachtung und keine Lehre
sein“.
## Den Krieg politisch denken
Als „verweilende kritische Betrachtung“ soll sie – vor allem mit Blick auf
die Kriegsgeschichte – die mannigfaltigen Kombinationen von Zwecken und
Mitteln, Ursachen und Wirkungen analysieren und das Urteilsvermögen
fördern. Clausewitz’ Ansatz verspricht damit keine Eindeutigkeit, wo es sie
nicht gibt, sondern bietet in erster Linie Hilfestellung dabei, den Krieg
in seiner Komplexität eigenständig zu denken.
Das reicht sicherlich nicht aus, um Kriege zu gewinnen. Aber es bietet gute
Voraussetzungen dafür, schwerwiegende strategische Fehler und deren nicht
selten gravierenden Folgen zu vermeiden. Seine wohl wichtigste Erkenntnis
ist aber die der umfassenden politischen Bedingtheit eines jeden Kriegs.
Kriege sind dabei nicht nur politische Akte, sondern sie werden auch durch
die ihnen zugrunde liegenden politischen Verhältnisse und Motive geprägt.
Der entscheidende Gesichtspunkt bei ihrer Betrachtung ist daher immer der
politische. Ohne den Krieg zunächst politisch zu denken, die politischen
Verhältnisse zu analysieren und die politischen Zwecke festzulegen, ist die
Entwicklung einer Strategie, die zum gewünschten politischen Ergebnis
führt, logischerweise nicht möglich.
Mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet dies, dass es höchste Zeit ist für
eine [7][umfassende Debatte darüber, wie dieser Krieg beendet] und wie die
sicherheitspolitische Ordnung in Osteuropa sowie das Verhältnis zu Russland
künftig gestaltet werden soll.
23 Mar 2023
## LINKS
[1] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150
[2] /Ausfaelle-bei-Bundeswehr-Schuetzenpanzer/!5911260
[3] /Nato-Verteidigungsminister-in-Bruessel/!5912771
[4] /Afghanistankrieg/!t5010963
[5] /Waffenlieferungen-an-die-Ukraine/!5915483
[6] /Wagenknechts-Friedensbewegung/!5915750
[7] /Erster-Jahrestag-des-Ukrainekriegs/!5917806
## AUTOREN
Christian Th. Müller
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