# taz.de -- Legende der US-Experimentalmusik: Zuvielfaltspinsel mit Elektroharke | |
> Mit Banjo, verstärktem Gartengerät und unerschöpflichem Vorrat an | |
> Coverversionen: Eugene Chadbourne malt ein Panoramabild der schrägen | |
> Improvisation. | |
Bild: Freundlicher Improvisateur mit großer Freude an stilistischer Entgrenzun… | |
Mit dem Konzept „Grenze“ kann [1][Eugene Chadbourne] nichts anfangen. Die | |
Zahl seiner Veröffentlichungen rast ungebremst auf die 200 zu. Auf der | |
Liste seiner musikalischen Kooperationen sind die Violent Femmes, Camper | |
van Beethoven oder Anthony Braxton nur die Spitze – der musikalische | |
Austausch mit Letzterem erschien gerade als Acht-CD-Box. Und „Dreamory“, | |
der [2][Wälzer mit Chadbournes Tour- und Traumtagebüchern], knackt locker | |
die 1.000-Seiten-Schwelle. Viel ist das alles, ja. Aber aus Sicht des | |
69-Jährigen längst nicht zu viel. | |
Jetzt bringt der Mann mit dem freundlichen Mondgesicht und der runden | |
Flaschenglas-Brille seine Idee stilistischer Entgrenzung zurück auf | |
norddeutsche Bühnen. Begleitet wird er dabei von einem Geistesbruder, dem | |
deutschen [3][Schlagzeuger Schroeder]. Noch so ein Zappa Ultra. | |
Schon früh hat Eugene Chadbourne musikalische Beklemmungen. Nachdem ihn die | |
Beatles als Teenager zur Gitarre führen, erscheinen ihm Popsongs bald als | |
Korsett. Hendrix, Zappa und vor allem Jazz helfen, es zu sprengen. Als | |
Chadbourne als 20-Jähriger Mitte der Siebziger nach New York zieht, springt | |
er kopfüber ins brodelnd heiße Wasser der dortigen Improvisations-Szene. | |
Sein eigenes Schlafzimmer-Label Parachute veröffentlicht neben seinen | |
fingerfertigen Solo-Gitarren-Abenteuern auch Heißsporne wie John Zorn oder | |
Henry Kaiser. Als ihm schließlich auch das akademische Avantgarde-Milieu | |
nach ein paar Jahren zu eng wird, erweitert er es um seine Liebe zu Country | |
und Western, linken Ideen und Pot. | |
Seither beackert Chadbourne dieses sehr weite Feld auf unterschiedlichste | |
Art. Mal mit dem Banjo, dann wieder mit der Electric Rake, einem mit | |
Kontaktmikrofonen versehenen Handrechen, der einen Höllenkrach macht. | |
Überwiegend aber mit der Gitarre. Die spielt er so gekonnt, | |
reaktionsschnell und mit enzyklopädischem Musikwissen, dass er sich bei | |
Konzerten nicht selten als lebende Jukebox präsentiert. | |
Das Publikum ruft einen Song und Chadbourne verwandelt volley: meistens in | |
eine schrullige Frickelversion, viel zu schnell gespielt oder mit | |
Mickey-Mouse-Stimme und verändertem Text gesungen. Ein groteskes Zerrbild | |
des Originals, das fließend übergeht in die nächste Coverversion. Diese | |
Medleys können stattliche Längen und beachtliche Abseitigkeit erreichen. | |
Manches beginnt mit den Beatles und endet in Adaptionen von Albert Aylers | |
Feuermusik. Dazwischen liegen meist deformierte Countrysongs. | |
Dieser grobe Plan verändert sich, wenn Chadbourne nicht mehr allein auf der | |
Bühne steht. Schon mit [4][Shockabilly], seiner ersten eigenen Band in den | |
80ern, wird die Umlaufbahn seiner Songs etwas weniger außerirdisch. Auch | |
das Schlagzeug von Schroeder, obwohl durchaus improvisationserfahren, | |
strukturiert die Auftritte, hält den Gitarristen in der Spur. Beide kennen | |
sich seit Jahren, haben zahllose gemeinsame Konzerte gespielt. | |
Eine der erfolgreichsten Chadbourne-Veröffentlichungen trägt den Titel „LSD | |
C&W“. Darin klingt an, was ihn so anders macht: Im Gegensatz zu spröden | |
Rollkragen-Improvisateuren wie Derek Dailey hat Chadbourne Humor. Den Lärm | |
der Electric Rake könnte er genauso gut mit der Gitarre erzeugen. Aber wenn | |
er mit der Harke über Wände, Stühle und den Tresen eines Clubs kratzt, | |
macht das dem Publikum mehr Freude. Ihm sowieso. | |
Manche Konzerte sind zu einem Drittel Stand-up-Comedy. Dann werden fiktive | |
Telefonate mit dem Boss einer Plattenfirma improvisiert, erzkonservative | |
Country-Songs zu APO-Hymnen umgetextet und über Republikaner gelästert. In | |
Amerika können sie damit nicht überall umgehen. Auch deshalb ist er seit | |
Jahrzehnten regelmäßig und ausgiebig in Europa unterwegs. Überwiegend in | |
den gleichen kleinen Clubs. Nicht alle können damit umgehen, wenn | |
Merle-Haggard-Songs in ein Dead-Kennedys-Stück übergehen | |
All den Grimassen, schiefen Witzen und schrägen Kombinationen zum Trotz | |
sind Chadbourne-Auftritte keine Ulk-Shows. Es sind im Grunde Oden an seine | |
musikalischen Helden. Davon hat er viele. Sie reichen von Folkies wie Tim | |
Buckley oder Nick Drake über den Love-Sänger Arthur Lee bis zu | |
Country-Größen wie Willie Nelson. | |
Die allermeisten dieser Ehrerbietungen werden stark verändert, aber sie | |
werden virtuos gespielt. Zumindest unter den leicht verbogenen Maßstäben, | |
die hier gelten. Chadbourne möchte diese Lieder wiedererwecken, ihnen neues | |
Leben einhauchen. Wohin das die Musik führt, ist zu Beginn nicht immer | |
absehbar. Doch das ist schließlich bei jedem Leben so. | |
3 Mar 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://eugenechadbourne.com/ | |
[2] https://eugenechadbourne.com/portfolio/dreamory-the-book | |
[3] https://www.drumbology.de/ | |
[4] https://www.youtube.com/watch?v=RapgBNbLX9Y | |
## AUTOREN | |
Gregor Kessler | |
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