# taz.de -- Technocracy-Bewegung: Rente mit 40 und Grundeinkommen | |
> Die Technocracy-Bewegung plante eine nach den Prinzipien von Wissenschaft | |
> und Technik organisierte Welt. Eine ihrer Leitfiguren war Musks | |
> Großvater. | |
Bild: Elon Musk will ganz im Sinne seines Großvaters die „marsianische Techn… | |
Mit Internettechnologien gesellschaftliche Probleme lösen: Der Glaube daran | |
ist im [1][Silicon Valley] heute allgegenwärtig. Doch der Grundstein für | |
diesen „Solutionismus“ ist älter als das Internet selbst und maßgeblich | |
geprägt von der Technocracy-Bewegung. Heute ist sie weitgehend vergessen. | |
Ihr Archiv wurde gerade geschlossen, die meisten Mitglieder sind | |
mittlerweile verstorben oder hoch betagt. | |
Entstanden ist die Bewegung in den [2][USA] nach dem Ersten Weltkrieg. Sie | |
orientierte sich trotz ihres Antikommunismus durchaus an der frisch | |
gegründeten Sowjetunion. Aus der sich gerade entwickelnden | |
Arbeitswissenschaft entlieh sie sich Ideen zur Steigerung der Effizienz, | |
die sie mit planwirtschaftlichen Ansätzen im Stil der frühen [3][UdSSR] | |
kombinieren wollte. Der Ingenieur Howard Scott, einer der Köpfe der | |
Bewegung, glaubte an einen technischen Fortschritt, der die menschliche | |
Arbeit bald weitgehend überflüssig machen würde. | |
In der idealen Gesellschaft sollte man nur 16 Stunden pro Woche arbeiten | |
müssen und mit 40 in Rente gehen. Alle sollten von einem einheitlichen | |
Grundeinkommen leben. Geld sollte durch Energiezertifikate ersetzt werden, | |
die an die Kryptowährungen von heute erinnern. So sollte auch dem Raubau an | |
Rohstoffen begegnet werden, den Scott schon zu dieser Zeit als Problem | |
erkannt hatte. Mit solchen Ideen konnte Scott nach der Großen Depression | |
eine beträchtliche Zahl von Anhängern mobilisieren. Allein in Kalifornien | |
soll die Bewegung in den 30er-Jahren eine halbe Million Mitglieder gehabt | |
haben. | |
## Den Mars besiedeln | |
Ein anderer Wortführer der Bewegung war Joshua Haldeman, ein | |
Chiropraktiker, der im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs verhaftet wurde, weil | |
Technocracy Inc. von der kanadischen Regierung als eine Organisation | |
eingestuft worden war, die den „war effort“ torpedierte. 1971 brachte seine | |
Tochter Maeve seinen ersten Enkel zu Welt. Sein Name: Elon Musk. Musk, der | |
mit selbstfahrenden und angeblich energiesparenden Autos auf seine Weise | |
die Ideen der Technocracy-Bewegung fortführt, treibt auch die Frage um, was | |
die Menschen tun werden, wenn Maschinen ihnen die Arbeit abnehmen. In einer | |
Rede von 2017 fragte er: „Viele Menschen leiten ihren Lebenssinn aus ihrer | |
Arbeit ab. Wenn es also keinen Bedarf für deine Arbeit gibt, was ist dann | |
dein Sinn?“ | |
Mit seinem Weltraumunternehmen SpaceX will er nach eigener Aussage die | |
Entwicklung von Raumschiffen beschleunigen, um die „marsianische | |
Technokratie aufzubauen“. „Wenn die Menschheit zu meinen Lebzeiten nicht | |
auf dem Mars landet, werde ich sehr enttäuscht sein“, sagte er einmal. | |
Momentan versorgt SpaceX immerhin schon die internationale Raumstation. | |
Die größte Operation der Technocracy-Bewegung wurde dagegen auf der Straße | |
umgesetzt. 1947 rollte in der „Operation Columbia“ ein Autokorso mit | |
Hunderten von Teilnehmern von Los Angeles nach Vancouver und wieder zurück. | |
Es war nach Angaben der Organisatoren „die größte Massendemonstration, die | |
jemals eine internationale Grenze überschritten hat“. Unterwegs fanden | |
immer wieder Kundgebungen statt, bei der die Zuschauer von den politischen | |
Zielen der Bewegung überzeugt werden sollten: dass es nämlich keine Politik | |
mehr brauche, sondern dass die Welt ausschließlich nach den Prinzipien von | |
Wissenschaft und Technik zu organisieren sei. Die Autos, die Kleidung der | |
Teilnehmer und ihre Ausrüstung waren in einem stumpfen Wehrmachtsgrau | |
gehalten, aber bemalt mit knallroten Slogans und einem abgeleiteten Yin- | |
und Yang-Symbol. Das Grau der Bewegung war auch Ausdruck des strikten | |
Rationalismus, dem sich Technocracy Inc. verpflichtet sah. | |
## Weder religiöse Überzeugungen noch politische Philosophien | |
Geblieben ist von der „Operation Columbia“ ein Film, in dem ein Erzähler | |
mit donnernder Stimme im Stil von Weltkriegs-„Wochenschauen“ die Stationen | |
der Reise beschreibt und der bei [4][Youtube] gegenwärtig weniger als 3.000 | |
Aufrufe hat. | |
Die Aufnahmen von „Operation Columbia“ erinnern zunächst an einen | |
faschistischen Aufmarsch und in der Tat war die Gruppe während des Zweiten | |
Weltkriegs in Kanada verboten, weil man ihr Sympathien für die deutschen | |
Nationalsozialisten unterstellte. Dabei betonten die Weltretter von | |
Technocracy stets: „Unsere Einstellung hat nichts mit allen Theorien des | |
Sozialismus, Faschismus oder Kommunismus oder der sogenannten politischen | |
Parteienregierung zu tun und steht im Widerspruch dazu.“ | |
Technokratie war für die Anhänger dieser merkwürdigen Reformbewegung nicht | |
Dystopie, sondern Utopie: „Technocracy Inc. ist ein völlig neues Modell, um | |
die Welt auf der Grundlage moderner Technologie zu betreiben“, heißt es | |
noch heute auf der [5][Website] der exzentrischen Bewegung – von der wenig | |
mehr als eben diese Website geblieben ist. „Es geht nicht um religiöse | |
Überzeugungen oder politische Philosophien, sondern um den maximalen | |
Nutzen, der durch die Anwendung der Wissenschaft auf die physischen | |
Ressourcen des Kontinents bei maximaler Schonung erreicht werden kann.“ | |
Zumindest rhetorisch wirken die Positionen dieser Bewegung in der heutigen | |
Gegenwart, in der scheinbar uneingeschränkt herrschende Tech-Unternehmen | |
das Kommando übernommen haben, erstaunlich zeitgenössisch. | |
11 Mar 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Stellenstreichungen-im-Silicon-Valley/!5892248 | |
[2] /Konferenz-konservativer-US-Republikaner/!5919800 | |
[3] /Computerspiel-Atomic-Heart/!5915392 | |
[4] https://www.youtube.com/watch?v=pDX9dyjqimA | |
[5] https://www.technocracyinc.org/ | |
## AUTOREN | |
Tilman Baumgärtel | |
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