# taz.de -- Pilotprojekt Grundeinkommen: Geld bedeutet Selbstbestimmung | |
> Drei Jahre lang erhielten 122 Personen Geld, einfach so. Zwei von ihnen | |
> ziehen jetzt ein erstes Fazit. Doch das Konzept wird zunehmend | |
> kritisiert. | |
Bild: Anfang Mai haben Sarah Bäcker und die übrigen Teilnehmenden ihre letzte… | |
Alles unter einen Hut zu bringen ist schwierig. Die fast zwei Jahre alte | |
Tochter geht jetzt in die Kita. Ihre Mutter Sarah Bäcker stieg vorigen | |
August wieder in die Arbeit als Architektin ein, zunächst mit 20 Stunden | |
pro Woche. Mittlerweile hat sie auf 30 Stunden erhöht. „Mehr aber geht | |
kaum“, sagt die Berlinerin, „ich bin so schon im Dauereinsatz.“ | |
Beim Austarieren der fragilen Balance aus Kind, Arbeit und Partnerschaft | |
hilft, dass die 42-jährige Architektin nicht unter finanziellem Stress | |
leidet. „Ich muss keinen Vollzeitjob machen, um das nötige Geld | |
zusammenzukratzen.“ Seit drei Jahren bekommt Bäcker zusätzlich zu ihren | |
normalen Einnahmen 1.200 Euro monatlich überwiesen, als sogenanntes | |
bedingungsloses Grundeinkommen. | |
Sarah Bäcker hatte das Glück, als eine von 122 Personen für dieses | |
wissenschaftliche Experiment ausgewählt worden zu sein. Mit dem | |
Pilotprojekt wollen unter anderem der Verein Mein Grundeinkommen und das | |
Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) herausfinden, wie sich | |
Haushalte der Mittelschicht verhalten, wenn sie materiell besser | |
abgesichert sind. Arbeiten sie dann weniger oder mehr – oder anders? Geben | |
sie ihren Leben eine neue Richtung? | |
Anfang Mai haben Sarah Bäcker und die übrigen Teilnehmenden ihre letzte | |
Überweisung bekommen – Zeit für ein erstes Fazit. Die wissenschaftliche | |
Auswertung des Experiments wird erst Anfang kommenden Jahres | |
veröffentlicht. Wobei die grundsätzliche Idee dieser Sozialreform gerade | |
jetzt verstärkt in die politische Auseinandersetzung gerät. | |
## Anderthalb Jahre Elternzeit | |
Vor Grundeinkommen und Kind arbeitete Bäcker sehr viel. Sie war | |
gleichzeitig als Architektin und selbstständige Ausstellungsmacherin tätig | |
und verdiente etwa 2.000 Euro netto monatlich. Die 1.200 Euro zusätzlich | |
verschafften ihr eine finanzielle Sicherheit, die sie bis dahin nicht | |
kannte. Nach der Geburt ihrer Tochter Alva fand sie sich in der | |
komfortablen Lage, mit Grundeinkommen, Eltern- und Kindergeld einen | |
ähnlichen Betrag zur Verfügung zu haben wie vorher. Deshalb konnte sie sich | |
für anderthalb Jahre Elternzeit ohne bezahlte Arbeit entscheiden. | |
Und jetzt, da die Architektin mit ihrer 30-Stunden-Stelle wieder ungefähr | |
2.000 Euro netto selbst verdient, braucht sie das Grundeinkommen für das | |
tägliche Leben eigentlich nicht mehr. Wie auch vor der Mutterschaft lässt | |
sie das Geld auf dem Konto, wo sich mittlerweile ein Puffer von rund 15.000 | |
Euro angesammelt hat. Mit diesem kleinen Vermögen im Rücken könne sie sich | |
„zum Beispiel in gewissem Rahmen selbst entscheiden, wie viel ich arbeite“, | |
sagt Bäcker. Genug Geld bedeutet Selbstbestimmung – das ist für sie ein | |
wesentliches Fazit aus dem Projekt. | |
Antonio Brettschneider, Professor für Sozialpolitik an der Technischen | |
Hochschule Köln, einer derjenigen, die das Projekt wissenschaftlich | |
begleiten, sagt es so: „Mir geht es um einen Hauptbegriff: Autonomie.“ Ihn | |
interessiert die Frage: „Inwieweit kann ein Grundeinkommen dazu beitragen, | |
dass Menschen in die Lage versetzt werden, ihr Leben und ihren Lebenslauf | |
mittel- und langfristig so zu gestalten, wie sie es eigentlich möchten?“ | |
Wie weit ein solcher Entscheidungsspielraum reichen kann, lässt sich an | |
[1][Elisabeth Ragusa beobachten, einer anderen Teilnehmerin des | |
Pilotprojekts]. Bis zum Frühjahr 2023 arbeitete die heute 31-Jährige als | |
Industriekauffrau in einer Druckerei, die Etiketten zum Beispiel für | |
Weinflaschen herstellte. Dann machte sie Schluss mit dieser Tätigkeit, die | |
sie nicht ausfüllte. Und sie begann, auf Lehramt für Grundschulen mit den | |
Fächern Deutsch und Naturkunde an der Pädagogischen Hochschule im | |
baden-württembergischen Freiburg zu studieren. | |
## Ein Traum wird wahr | |
Früher war das nur ein Traum für Elisabeth Ragusa, weil sie Angst hatte, | |
fünf Jahre Universität finanziell nicht durchzustehen. „Ein Studium muss | |
man sich ja leisten können“, sagt sie, „das erschien mir nicht möglich.“ | |
Die regelmäßige Zahlung der zusätzlichen 1.200 Euro monatlich, von denen | |
sie einen guten Teil sparen konnte, gab den Ausschlag. Jetzt studiert sie | |
im dritten Semester, fühlt sich am richtigen Platz: „Ich freue mich schon | |
darauf, meine zukünftige Klasse an der Schule zu unterrichten.“ | |
Solche Erfahrungen mit dem Grundeinkommen zeigen, dass dadurch das System | |
der Arbeit etwas weniger Stress und Zwang ausüben würde. Damit liegt das | |
Vorhaben einerseits im Trend: Seit Jahrzehnten geht die Arbeitszeit pro | |
Kopf zurück, die Selbstbestimmung im Job wird wichtiger, manche Leute | |
arbeiten mittlerweile öfter zu Hause als im Büro, Freizeit hat einen | |
höheren Stellenwert. | |
Andererseits hat das Thema gerade keine gute Konjunktur. Die Wirtschaft | |
stagniert. Viele Privathaushalte, Firmen und Politiker:innen machen | |
sich Sorgen. Die Angst vor Wohlstandsverlust geht um. Und da wird über | |
einen solchen Luxus diskutiert? Ein Grundeinkommen für alle Bürger:innen | |
wäre mit etwa 1.000 Milliarden Euro pro Jahr irrwitzig teuer und nur durch | |
höhere Steuern für Leute mit gutem Einkommen zu finanzieren. | |
Außerdem steht die Forderung im Raum, mehr zu arbeiten, um den Mangel an | |
Beschäftigten auszugleichen. Aber führt das Grundeinkommen nicht gerade | |
dazu, dass weniger gearbeitet wird? Die Erfahrungen von Sarah Bäcker und | |
Elisabeth Ragusa könnte man in diese Richtung deuten, wobei sie nur eine | |
Momentaufnahme darstellen. | |
## Entwicklung zum Kampfbegriff | |
FDP und Union benutzen den Begriff Grundeinkommen nun, um SPD und Grüne in | |
Bedrängnis zu bringen. Dabei geht es nicht um das Konzept an sich – es | |
dient den Kritiker:innen als Symbol für Sozialleistungen, die aus ihrer | |
Sicht ausufern. So zog Bundesfinanzminister Christian Lindner [2][beim | |
jüngsten Parteitag seiner FDP gegen das Bürgergeld zu Felde, das Hartz IV | |
abgelöst hat]. Die höheren Leistungen und andere Verbesserungen, die vor | |
allem der SPD am Herzen liegen, gehen den Liberalen zu weit, sie fordern | |
ein härteres Vorgehen gegen die Arbeitslosen. | |
Das Bürgergeld sei „kein bedingungsloses Grundeinkommen“, schimpfte Lindner | |
– obwohl das eine mit dem anderen wenig zu tun hat. Und die CDU beschloss | |
unlängst, sie wolle das Bürgergeld wieder abschaffen, wenn sie an die | |
Regierung käme. In diesem Zusammenhang hat CDU-Chef Friedrich Merz gegen | |
das Grundeinkommen polemisiert. | |
„Das Wort wird zunehmend zum Kampfbegriff“, stellt Jürgen Schupp fest, der | |
das Projekt beim DIW begleitet. „Das Grundeinkommen ist fast schon ein | |
Triggerthema, das emotional aufgeladene und unversöhnliche Reaktionen | |
auslöst.“ Dabei sei das Konzept grundsätzlich vernünftig. Mehr soziale | |
Sicherheit und individuelle Selbstbestimmung könnten dazu beitragen, dass | |
die Beschäftigten länger im Leben sowohl arbeitsfähig als auch motiviert | |
blieben. | |
10 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Hannes Koch | |
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