# taz.de -- Russischer Dirigent über Krieg und Kunst: „Wir können nicht so … | |
> Der Dirigent Vladimir Jurowski wurde in Moskau geboren, seit Jahren | |
> leitet er deutsche Spitzenorchester. Ein Gespräch über Krieg in der | |
> Musik. | |
Bild: Ein Künstler müsse Empathie mit seinen Mitmenschen haben, sagt Vladimir… | |
Schlag elf Uhr weht Vladimir Jurowski ins Dirigentenzimmer, er ist groß, | |
die Stimme tief, am Revers trägt er einen Button mit der Friedenstaube vor | |
der ukrainischen Flagge. In einer Stunde erwartet den russischen Dirigenten | |
das Rundfunksinfonieorchester Berlin, sie proben eine bislang kaum | |
aufgeführte Oper: „Die Nacht vor Weihnachten“. Das Märchen stammt vom | |
ukrainischen Dichter Nikolai Gogol, die Musik vom russischen Komponisten | |
Nikolai Rimski-Korsakow. Die Oper zeigt, wie Gogol und Rimski-Korsakow | |
jeder zu seiner Zeit ukrainische Kultur in Sankt Petersburg hoffähig machen | |
wollten. Die Handlung ist derb bis lustig und die Musik schillert in allen | |
Farben. Ein schöner Ansatz, das Werk gerade jetzt auf die Bühne zu bringen. | |
Eigentlich. Noch bevor Vladimir Jurowski sich zum Gespräch setzt, gibt es | |
schon die ersten Schwierigkeiten. | |
Vladimir Jurowski: Einer der Sänger wäre aus Wien zu uns gekommen, er singt | |
dort im Opernstudio der Staatsoper. Aber die Beamten haben ihn vor der | |
deutschen Grenze aus dem Zug geholt. Er hat ein Arbeitsvisum eines anderen | |
europäischen Staats, aber sie sagten, es würde nicht für Deutschland | |
gelten. | |
wochentaz: Und was ist mit dem anderen Sänger? | |
Er hat in Moskau leider kein Visum für Deutschland erhalten. Er kann nicht | |
einreisen. Noch im Juni war er in München bei den Aufführungen der „Nase“ | |
von Schostakowitsch dabei. Und dann brauchte er ein neues Visum, was ihm | |
die Botschaft verweigerte. Sie argumentieren, es bestehe Gefahr, dass der | |
Sänger in Deutschland bleiben würde, dass er quasi politisches Asyl hier | |
suchen würde. Unter diesem Vorwand gab man ihm kein Arbeitsvisum. Leider | |
passiert das in letzter Zeit nicht selten. | |
Weil Russland seit dem 24. Februar 2022 einen Angriffskrieg gegen die | |
Ukraine führt. | |
Ja, und ich habe absolutes Verständnis, dass man den Bürgerinnen und | |
Bürgern aus Russland wegen des [1][furchtbaren Krieges] das Touristenvisum | |
verweigert. Aber Menschen, die von der europäischen Seite eingeladen | |
werden, die man hier künstlerisch einsetzen will, dass man denen die | |
Einreise verweigert, das verstehe ich, ehrlich gesagt, nicht. Ein andermal | |
haben Beamte einen Sänger an der Grenze in Frankfurt (Oder) vorsingen | |
lassen, weil man ihm nicht glaubte, dass er hier Auftritte hat. Bis er eine | |
Arie von sich gegeben hat. | |
Und als sie es für schön befunden haben, haben sie ihn einreisen lassen? | |
Das war Schikane. Der Beamte hat dann seinen Vorgesetzten angerufen und | |
gesagt: Wir können jetzt nichts mehr machen, wir lassen ihn durch. | |
Das klingt absurd. | |
Ja, ich habe es vorher nicht für möglich gehalten, aber inzwischen muss ich | |
sagen, dass dieser furchtbare Krieg im Westen den Weg frei gibt für | |
Russophobie. Tatsächlich. | |
Erleben Sie selbst auch Anfeindungen? | |
Nein, in meinem Fall ist das undenkbar. Ich bin etabliert, ich habe seit | |
zwanzig Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft. Es geht nicht um mich. Aber | |
Leute, die sich so verhalten wie diese erwähnten Grenzbeamten sind Putins | |
unfreiwillige Helfer, weil sie seine Theorien belegen. | |
Vladimir Jurowski hat sich als einer der ersten Musiker in Deutschland | |
deutlich gegen Vladimir Putin und den russischen Angriffskrieg | |
positioniert. Am 26. und 27. Februar 2022, zwei und drei Tage nach dem | |
Angriff auf die Ukraine, eröffnete er zusammen mit dem | |
Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin die Konzerte mit der ukrainischen Hymne | |
und ersetzte den „Slawischen Marsch“ Tschaikowskis, den sie eigentlich | |
spielen wollten, mit einem kurzen, bislang kaum bekannten Stück von | |
Michaylo Werbitzky, dem Komponisten der Hymne der Ukraine. Als einige | |
europäische Konzertveranstalter begannen, auch von weniger bekannten | |
Künstlern mit russischer Staatsangehörigkeit öffentliche Statements zu | |
Putins Krieg zu verlangen, sie zur Distanzierung aufzufordern oder gleich | |
ganz wieder auszuladen, selbst wenn sie schon Jahre fast ausschließlich in | |
Europa aufgetreten waren, [2][initiierte Vladimir Jurowski einen offenen | |
Brief]. Er verurteilte darin den „skrupellosen Krieg, den Putins | |
totalitäres Regime entfesselt“ habe. Aber er bezeichnet es gleichzeitig als | |
„ungerecht“, Kulturschaffende aus Belarus und Russland für den Krieg zu | |
verurteilen, selbst „wenn keine direkten Beweise für ihr Mitwirken | |
vorliegen“. | |
Wie haben Sie die vergangenen Monate erlebt? Ist der Konzertsaal nun zum | |
Spiegel politischer Entwicklungen geworden? | |
Der Konzertsaal ist ein Teil unseres Lebens, und wir Musiker sind ein Teil | |
der Gesellschaft, in der wir leben. Man muss als Künstler die Antennen | |
immer in alle Richtungen ausgefahren haben, man muss wissen, was auf der | |
Welt passiert und entsprechend bewusst seine Programme planen. Dass | |
russische Stücke vom Spielplan genommen werden, das passiert zum Glück | |
nicht mehr. | |
In Deutschland nicht. Aber in Polen zum Beispiel wird keine Musik von | |
Komponisten aus Russland gespielt, und in der Ukraine sowieso nicht, dort | |
bringen Menschen zum Teil sogar Bücher in russischer Sprache zu Buchläden, | |
[3][damit Altpapier aus ihnen gemacht wird]. | |
Bei einem Vernichtungskrieg muss man zu den Seinigen halten. Ich kann das | |
verstehen. Hier in Deutschland weigern sich ukrainische Künstler zum Teil | |
auch, mit russischen Künstlern auf derselben Bühne zu stehen. | |
Auch wenn es Menschen sind, die lange schon in Europa leben und arbeiten | |
und den Krieg verurteilen, Exilrussen? | |
Ja. Ich bin selbst einer. Sehen Sie, wir wollten vor dieser Oper im Foyer | |
der Philharmonie ukrainische Lieder singen lassen, weil die Oper von | |
Rimski-Korsakow auf ukrainischen Volksliedern basiert. Wir haben einen | |
ukrainischen Exilchor angefragt. Aber sie haben nein gesagt. | |
Weil Menschen mit russischer Staatsangehörigkeit bei Ihrer Oper dabei sind? | |
Ja, weil Feinde dabei sind. Ich kann das nachvollziehen. Aber das schmerzt. | |
In der Oper, die Sie aufführen, „Die Nacht vor Weihnachten“, kommen | |
Ukrainer und Russen auf märchenhafte, fast idyllische Weise zusammen. Ein | |
Schmied aus einem ukrainischen Dorf verbündet sich mit dem Teufel, damit | |
der ihm dabei hilft, nach Sankt Petersburg zu fliegen. Dort will er der | |
Zarin Schuhe abluchsen, um sie seiner Angebeteten zu bringen, damit sie ihn | |
heiratet. Die Zarin ist ganz gerührt und überreicht dem Schmied freiwillig | |
ihre schicksten Schuhe … | |
Wir haben das Stück schon vor dem Krieg eingeplant. Aber ich wollte auch | |
jetzt daran festhalten. (Er nimmt ein großes, gebundenes Buch in die Hand, | |
das auf einem Stuhl liegt). Schauen Sie, das habe ich in München gefunden. | |
Es ist eine Ausgabe von Gogols Märchen, die in Kiew erschienen ist. Die | |
Texte sind mit ukrainischen Kommentaren versehen. Gogol war Ukrainer, aber | |
er lebte in Russland, der Originaltext der Märchen ist auf Russisch. Das | |
ist die Realität: Russische und ukrainische Kultur sind nicht dasselbe, | |
aber sie sind dicht miteinander verwoben. Das darf man nicht kaputt machen. | |
Es wäre so, als würden die Österreicher sagen, weil sie damals von | |
Deutschland annektiert wurden, wollten sie jetzt nichts mehr mit der | |
deutschen Sprache zu tun haben. | |
Sie haben gesagt, dass Sie diese Oper vor Kriegsbeginn eingeplant hatten. | |
Sind Sie seit Kriegsbeginn bei Ihrer Arbeit als Dirigent anders | |
vorgegangen, vorsichtiger? | |
Ja, aber nicht drastisch. Ich wurde auch nie darum gebeten, etwas anders zu | |
machen. Dass wir das Programm für die Konzerte nach Beginn des Krieges in | |
Berlin verändert haben, war allein unsere Entscheidung, die des Orchesters | |
und meine. Aber im April dirigiere ich in Chicago. Eigentlich hatten wir | |
die 7. Sinfonie von Schostakowitsch geplant, die Leningrader Sinfonie, wie | |
vom Orchester gewünscht. Ich habe das Orchester gebeten, sie vom Programm | |
zu nehmen und stattdessen die 8. Sinfonie zu spielen. | |
Warum? | |
Die Siebte ist immer noch tolle Musik, aber sie ist unter bestimmten | |
Bedingungen im Zweiten Weltkrieg entstanden, den die Russen den Großen | |
Vaterländischen Krieg nennen. Die Musik trägt teilweise einen | |
propagandistischen Charakter. Gut, man könnte sie umdeuten und sagen: | |
Stellt euch hier an der Stelle des belagerten Leningrads die Ukraine vor. | |
Aber das würde doch nicht passen. Die Sinfonie ist unter den | |
stalinistischen Schikanen geschrieben worden. Schostakowitsch war | |
gezwungen, bestimmte künstlerische Entscheidungen zu treffen. Die | |
Amerikaner hatten kein Problem damit, aber ich wollte das ändern. | |
Wie nehmen Sie derzeit das Konzertpublikum in Deutschland wahr? Am Anfang | |
des Krieges zumindest schienen sich die Menschen eine Haltung auch im | |
Konzertsaal zu wünschen, das war spürbar zum Beispiel bei Ihren Konzerten | |
mit dem Rundfunksinfonieorchester. Wie ist es mittlerweile? | |
Es ist von Abend zu Abend unterschiedlich, und es gibt sehr | |
unterschiedliche Menschen. Wenn auf dem Programm das Violinkonzert von Kurt | |
Weill steht, zum Beispiel, dann erwarten die Menschen kein leichtes | |
Konzert. Dann kommen sie, um ebendieser Musik zu lauschen. Aber sie wollen | |
nicht in jedem Programm mit politischen Manifesten gefüttert werden. Das | |
spüre ich und befürworte ich auch. Der Mensch braucht Abwechslung. Wir im | |
Westen können unsere Situation nicht vergleichen mit den Härten, die die | |
Menschen in der Ukraine oder im Iran oder in anderen Teilen der Welt | |
erleben müssen. Aber auch hier wird das Leben zunehmend problematischer, | |
durch die politische Spaltung des Gesellschaft, durch die Sorge, den der | |
Krieg in Europa verursacht. | |
Wo sehen Sie die Aufgabe der Künstler? Hat sie sich Ihrer Meinung nach | |
verändert? | |
Ja. Ich für meinen Teil bin der Meinung, dass wir als Musiker nicht mehr so | |
weitermachen können wie bisher. Es gibt aber viele Kollegen, | |
Orchestermusikerinnen und Musiker, die genau der anderen Meinung sind. Wir | |
haben keine Diskussionen, aber ich merke, dass meine Haltung nicht bei | |
allen auf Zustimmung stößt. | |
Lautet die andere Meinung, Musik, Kunst soll eine unantastbare Welt sein, | |
frei von Politik und Weltproblemen? | |
Viele wollen nichts verändern. Sie sagen, sie hätten jahrzehntelang | |
studiert, um ihre Instrumente zu erlernen, sie hätten einen krisensicheren | |
Job, sie wollten einfach nur schöne Musik vor Publikum spielen und | |
beklatscht werden. Mehr wollen sie nicht. Für mich ist das keine | |
vertretbare Haltung. Die Geschichte hat leider die Angewohnheit, sich zu | |
wiederholen. Menschen, die ihren Kopf in den Sand stecken, tragen | |
unwillkürlich dazu bei, dass Schreckensherrschaften entstehen. | |
Was kann Kunst, was können Künstler bewirken? | |
Man muss Empathie mit seinen Mitmenschen entwickeln, als Künstler, aber man | |
darf sie nicht ständig nur mit Zuckerwasser verköstigen. Man muss einen | |
Mittelweg finden. Ich fand es zum Beispiel total legitim, dass man in einer | |
vorweihnachtlichen Zeit eine Weihnachtsoper spielt. Ich habe mir kurz | |
überlegt, ob wir eine andere Vertonung des Märchens von Nikolai Gogol | |
aufführen, es gibt auch Musik des ukrainischen Komponisten Mykola Lyssenko | |
aus dem späten 19. Jahrhundert. Auch Tschaikowski verfasste eine Oper mit | |
dem Stoff, „Die Pantöffelchen“. Aber die musikalische Qualität dieser | |
beiden Opern ist wirklich nicht vergleichbar mit der Oper von | |
Rimski-Korsakow. | |
Rimski-Korsakow kann wunderbare Farben in der Musik schaffen, oder? | |
Nicht nur er, auch Tschaikowski konnte wunderbar instrumentieren. Aber | |
Humor, lustige Geschichten so wie diese, sind nicht Tschaikowskis Sache. Er | |
war mehr der Komponist für dramatische und tragische Stoffe. | |
Können Sie Musik derzeit eigentlich noch hören, ohne sie mit aktuellen | |
politischen Entwicklungen in Beziehung zu setzen? | |
Doch, schon. Anton Bruckner zum Beispiel hat mit Politik nichts zu tun. | |
Johann Sebastian Bach auch nicht. Aber man kann bei allen Komponisten | |
bestimmte traumatische Erlebnisse feststellen. | |
Wie vielleicht in jedem Menschenleben? | |
Wie sie in jeder Biografie, wie sie in jeder Generation vorkommen und mit | |
Kriegen zu tun haben. Man sagt Bach nach, dass in seiner Musik die | |
Schrecken des Dreißigjährigen Kriegs, der mit dem Westfälischen Frieden | |
vierzig Jahre vor seiner Geburt beendet wurde … | |
1685 ist Bach geboren, also quasi zwei Generationen nach dem Ende des | |
Dreißigjährigen Kriegs … | |
… man sagt, dass der Krieg in Bachs Musik eine künstlerische | |
Widerspiegelung fand. So eine Musik hatte es zuvor nicht gegeben, die das | |
kosmische Ausmaß des menschlichen Leidens darstellt, wie zum Beispiel in | |
Bachs Passionen. Das haben Musikwissenschaftler den vererbten Traumata | |
durch den Krieg zugeschrieben. Das lässt sich auch bei Heinrich Schütz | |
finden, aber in geringerem Maße als bei Bach. Das ist nicht meine Theorie, | |
aber ich sehe sie nun mit anderen Augen. | |
Mit welcher Musik beginnen Sie derzeit Ihren Tag? | |
Ich beginne meinen Tag mit Yoga. Bei Yoga kann ich keine Musik hören. Wenn | |
jemand wie ich unter ständigem Schalldruck lebt, ist die Stille | |
unerlässlich. Ich höre Musik auch so, im Auto oder im Zug, aber mir ist | |
wichtig, dass ich wenigstens ein paar Minuten am Tag der Stille zuhöre. | |
Oder den Vögeln draußen lausche. | |
6 Mar 2023 | |
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## AUTOREN | |
Carolin Pirich | |
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