# taz.de -- Kollegin über den Künstler Thomas Rieck: „Tief ins Innerste ges… | |
> Das Hamburger Künstlerhaus Frise zeigt abgründige und weniger abgründige | |
> Werke des kürzlich verstorbenen Zeichners, Malers und Autors Thomas | |
> Rieck. | |
Bild: Fahrt ins Irgendwo: Schiffszeichnung von Thomas Rieck | |
taz: Frau Mohr, welches Genre war für Ihren kürzlich verstorbenen | |
Künstlerkollegen Thomas Rieck am wichtigsten: Malerei, Zeichnung oder | |
Schriftstellerei? | |
Sabine Mohr: Ich würde sagen, dass er zuallererst und vor allem ein | |
wirklicher Meisterzeichner war. | |
Wie würden Sie Thomas Riecks Zeichnungen beschreiben? | |
Es war ein virtuoser Selbstausdruck in der Linie und hatte auch viel mit | |
dem Schreiben zu tun. Schreiben und Zeichnen sind sehr intime Dinge, bei | |
denen die Gedanken über die Bewegung der Hand direkt aufs Papier laufen – | |
seit jeher ist die Handzeichnung ja die elementarste künstlerische | |
Äußerung. | |
Was hat Thomas Rieck gezeichnet und gemalt? | |
Viele gnomische Gesichter und Figuren, Schreck- und Fantasiegestalten, die | |
er aus seinem Innersten schöpfte. Er hat sich echt was getraut und etwas | |
hervorgeholt, zu dem Menschen selten Zugang haben – Ängste, dunkle | |
Vorstellungen, Schreckensvisionen, Horrorfratzen. Ich kenne keinen | |
Künstler, der so tief ins Unterbewusste stieg wie Thomas Rieck. | |
Um welche Themen kreisten seine Werke? | |
Um Tod, Sexualität, Spiritualität, Tabus – das ganze Spektrum des Lebens, | |
vom Positiven bis zum Abstoßenden. Thomas hat sich intensiv mit der | |
Spiritualität Indiens befasst, er ist oft dorthin gereist, und auch in | |
diesem Denken steht ja alles gleichwertig nebeneinander. Und in seinen | |
letzten Lebenswochen habe ich gedacht: Er hat dargestellt, was ihm dann | |
selbst widerfahren ist in seinem schmerzhaften Sterben. | |
Hatte sein Zeichnen etwas Selbsttherapeutisches? | |
Auf jeden Fall hatte seine intensive künstlerische Arbeit etwas | |
Selbstkonstituierendes. Ob sie selbsttherapeutisch war, weiß ich nicht. | |
Allerdings ist der Kontrast zwischen seinen abgründigen Werken und seinem | |
freundlichen, zurückhaltenden Wesen sehr auffällig. Vielleicht ist er das | |
Abgründige durch seine Kunst gut losgeworden, indem er es umleitete. | |
Andererseits gibt es auch sehr schöne Tier- und Naturdarstellungen von ihm | |
– Frösche, Katzen, Kühe, Elche, Insekten: Alles hat er gezeichnet. Aber | |
nicht wie eine naturkundliche Skizze, sondern sehr virtuos und frei. | |
Was hatte es mit seinem Projekt „Innewerden“ auf sich? | |
Das war einerseits eine aus der indischen Kultur gespeiste Grundhaltung – | |
Meditation und Yoga zielen ja auf Konzentration, Sichloslassen, Innewerden. | |
Andererseits war es der Titel einer Ausstellung, für die sich Thomas 14 | |
Tage im Künstlerhaus Weidenallee einschloss. Er hat meditiert, in diesem | |
Raum gelebt, direkt auf die Wände und auf den Boden gezeichnet und das dann | |
ausgestellt. In einem anderen Projekt hat er seine alten Zeichnungen | |
vergraben und Karotten darauf gepflanzt. Im nächsten Jahr erntete er die | |
Karotten und grub die von ihnen durchbohrten Zeichnungen wieder aus. Es | |
ging um Vergänglichkeit, um Kreislauf und Umformung. | |
Wohingegen das Projekt „Trans“ eher Gemeinschaft stiftetet. | |
Ja, das war der Gegenpol zum individuellen „Innewerden“. Denn das Ego | |
aufzugeben, heißt auch, sich mit anderen zu verbinden, indem man zum | |
Beispiel Werke anderer KünstlerInnen kommentiert, übermalt oder neu in | |
Beziehung setzt. Das alles mit dem Ziel, hergebrachte Begriffe und | |
Vorstellungen aufzulösen und das kollektive Unbewusste anzusprechen. | |
Wie lief das Projekt ab? | |
Er hatte KünstlerInnen gebeten, Werke mitzubringen, die sie für nicht | |
fertig oder gelungen hielten. Sie wurden ausgelegt, und dann konnte man | |
Werke anderer KünstlerInnen mitnehmen und übermalen. Ich habe Werke von | |
vier KünstlerInnen überarbeitet. Es war ein wunderbares Projekt. | |
Thomas Riecks letztes Kooperationsprojekt war die „Goldene Schnitte“. Wie | |
funktionierte das? | |
Da ging es ums Schreiben. Thomas Rieck hat immer viel geschrieben, vor | |
allem Philosophisches, war ein großer [1][Sloterdijk-]Leser. Das Projekt | |
war mir zuerst nicht ganz klar. Thomas hatte Texte über ein Zwillingspaar | |
geschrieben: Einer von ihnen lebt in Rom, einer in Indien. Vielleicht waren | |
es zwei Facetten seiner selbst, denn er hat ja mit dem Stipendium der Villa | |
Massimo ein Jahr in Rom gelebt. Zwischen diesen beiden Personen spielt sich | |
die „Goldene Schnitte“ ab. Thomas Rieck lud [2][uns KünstlerkollegInnen] | |
ein, seine Gedanken fortzuführen oder etwas Eigenes zu schreiben. | |
Irgendwann habe ich verstanden, dass jeder schreiben konnte, was er | |
wollte, und Briefe an einen der „Zwillinge“ verfasst. Es haben so viele | |
KünstlerInnen mitgemacht, dass zwei Bände entstanden. | |
Ist der Titel ernst gemeint? | |
Nein. Der „[3][Goldene Schnitt“] bezeichnet die ideale Proportion in Natur | |
und Kunst und ist hier natürlich eine Ironisierung. Denn „Schnitte“ | |
erinnert ja auch an Häppchen, Schnittchen, wie sie auf Empfängen gereicht | |
werden. | |
Welche Bedeutung hatte Thomas Rieck für die Hamburger Künstlerszene? | |
Er war 1977 Mitbegründer des ersten Hamburger Künstlerhauses in der | |
Weidenallee, in dem KünstlerInnen sowohl arbeiteten als auch wohnten. | |
„Erfunden“ hatten das unter anderem AbsolventInnen der Hamburger | |
Kunsthochschule, die auch nach dem Studium gemeinsam arbeiten, die Leben | |
und Kunst verbinden wollten. Das hat auch mich so fasziniert, als ich 1984 | |
dazustieß. Das Haus hatten wir von einer Erbengemeinschaft gemietet. Als es | |
verkauft wurde, mussten wir nach 25 Jahren ausziehen. Nach vielen Mühen | |
haben wir das heutige Künstlerhaus Frise gefunden, in dem auch Thomas Rieck | |
bis zu seinem Tod im September 2022 wohnte und arbeitete. | |
Was wird die Gedenkausstellung zeigen? | |
Viele seiner Künstlerbücher, Zeichnungen, Gemälde – sowie einige | |
Gemeinschaftswerke aus dem „Trans“-Projekt. | |
Was geschieht mit Thomas Riecks Nachlass? | |
Ein Teil bleibt hier im Künstlerhaus Frise. Ein anderer Teil geht in die | |
„[4][Stiftung Kunstsammlung Dr. Maike Bruhns]“, die speziell Hamburger | |
KünstlerInnen gilt und in der Ohlsdorfer St.-Nikodemus-Kirche und deren | |
Gemeindehaus derzeit ein Forschungs- und Ausstellungszentrum aufbaut. | |
3 Mar 2023 | |
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[3] https://www.spektrum.de/lexikon/mathematik/der-goldene-schnitt/2514 | |
[4] /Hamburger-Ausstellungsort-Parabel/!5872608 | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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