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# taz.de -- Berliner Clubnacht mit 66: Wenn alte Frauen tanzen gehen
> Für unsere Kolumnistin ist es sehr besonders, mit 66 in den Club zu gehen
> und durchzuhalten. Ob die jungen Leute das peinlich oder cool finden?
> Egal.
Bild: Beliebt bei Jung und Alt: das SO36
Meine Freundin Charlotte hatte zu ihrem 72. Geburtstag wieder eine ihrer
unkonventionellen Einladungen ausgesprochen. „Ich will tanzen gehen“,
hatte sie verkündet, „in Kreuzberg gibt es am 13. Januar [1][im SO36] die
‚Balkan Beats‘, mit DJ. Da gehen wir hin.“ Und so stehen wir fünf Frauen…
SO36 in Berlin-Kreuzberg in der Garderobenschlange, verwaschene Stempel von
der Eingangskontrolle auf den faltigen Handgelenken. Acht Euro kostet der
Eintritt in den etwas verranzten Laden.
Um uns herum drängen lauter 20-, 25-Jährige in dunklen Klamotten zur
Garderobe. Ich fühle mich plötzlich beschwingt, nicht nur, weil es für mich
mit 66 Jahren was Besonderes ist, an einem Werktag erst um Mitternacht
auszugehen und das körperlich noch durchzuhalten. Hier fallen wir auf wie
fünf bunte Hunde. Hinter uns in der Schlange unterhalten sich zwei junge
Männer. „Ist heute Großmuttertag?“, fragt der eine seinen Kumpel. Ich
könnte mich jetzt empört umdrehen und einen Monolog halten. Etwa so:
„Hör mal, junger Mann, ich bin in diesen Laden hier schon vor 45 Jahren
gegangen, mit 21, da warst du noch nicht mal gezeugt! Ich habe um die Ecke
in einer Fabriketage gewohnt, für 120 Mark im Monat, im Winter froren die
Wasserleitungen zu, wir haben das Eis mit einem Bunsenbrenner
wiederaufgetaut. Unter uns lebte ein Junger Wilder, der seine
überdimensionierten Gemälde zur Ausstellung ins SO36 schleppte.“
Klingt super, nur ist es leider lächerlich, mit der Vergangenheit, die man
leistungslos erlebt hat, angeben zu wollen. Außerdem klang der junge Mann
ganz nett, als fände er uns vor allem exotisch. Was verständlich ist, denn
in späteren Jahren schaffen es die Leute bestenfalls nur noch [2][zum
Tangokurs], in Clubs geht kaum noch einer ab 65.
## Wie in der Seniorengymnastik
Wir stehen jetzt im Innenraum im SO36, [3][Balkan-Pop] entspannt, manchmal
erklingt ein Fünfvierteltakt. Wir bewegen uns im Takt hin und her, es ist
ein sanftes Schaukeln. Ich fühle mich ein bisschen wie beim Balancekurs in
der Seniorengymnastik, den ich besuche, weil mir neuerdings so leicht
schwindlig wird. Eine junge Frau wirft uns einen Blick zu und grinst. Sehe
ich Mitleid in ihren Augen oder findet sie uns supercool? Keine Ahnung.
Es ist jedenfalls nett hier. Die Luft ist besser als vor 45 Jahren. Wie
hatte ich das damals nur ausgehalten, in dieser Rauchbude? Na ja, ich hatte
selbst geraucht. Zwei Gläser Wein, das Getanze und die späte Stunde reichen
schon, um mich besonders zu fühlen. Um zwei Uhr nachts gehen wir zur U-Bahn
am Kotti. Auf der Straße stehen noch ein paar junge Menschen mit Drinks in
der Hand, trotz der winterlichen Temperaturen, und genießen ihr Coolsein.
„Eigentlich ist es nicht viel anders als früher“, sage ich, und der Gedanke
beruhigt mich. „Aber heute fährt nachts die U-Bahn durch“, bemerkt
Charlotte. Es gibt noch Verbesserungen, auf jeden Fall.
5 Feb 2023
## LINKS
[1] /SO36/!t5386613
[2] /Von-Tangoklaengen-durchtraenkt/!399099/
[3] /TOLERANZ/!5067517
## AUTOREN
Barbara Dribbusch
## TAGS
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Tanzen
Clubkultur
SO36
Koalitionsvertrag
Studie
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Mode
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