# taz.de -- Theaterstück über NS-Mordaktion: Flucht zu Ophelia | |
> Wie erzählt man vom Mord an Behinderten im Nationalsozialismus? Dem | |
> Theaterstück „T4. Ophelias Garten“ gelingt es mit einer persönlichen | |
> Geschichte. | |
Bild: Neele Buchholz als Ophelia (hinten) und Maja Zećo als Gertrud | |
Ophelia und Gertrud: Sie sind zwei Figuren aus Shakespeares Hamlet, | |
Ophelia, die Schutzlose und Gertrud, die schwer durchschaubare Mutter, die | |
letztlich mit der Macht paktiert. Ophelia und Gertrud: Sie sind zwei | |
Figuren in dem Drama „T4. Ophelias Garten“ des italienischen Theaterautors | |
Pietro Floridia, das in Deutschland jetzt erstmals im kleinen Theater | |
unterm Dach in Berlin aufgeführt wurde. | |
Ophelia, die Schutzlose, ist hier eine Waise mit Behinderung. Gertrud, die | |
schwer Durchschaubare, ist eine Krankenschwester, die über Ophelias | |
Einweisung in ein Heim entscheiden soll. Und weil das Drama 1941 in Hamburg | |
beginnt, in der Zeit des Nationalsozialismus und dessen | |
[1][Ermordungsprogramm für Behinderte], verschleiernd „Euthanasie“ genannt, | |
käme die Einweisung einem Todesurteil gleich. | |
Für das Theater unterm Dach in Berlin Prenzlauer Berg hat David Stöhr die | |
Regie übernommen, Neele Buchholz, eine Schauspielerin mit Down Syndrom, | |
spielt die Ophelia, Maja Zećo die Krankenschwester. Der obliegt es, die | |
Geschichte rückblickend zu erzählen und ihr Sprechduktus deutet dabei an, | |
dass sie sich in einem Verhör befindet. | |
## Im Modus der Rechtfertigung | |
Sie versucht, sich für ihre Arbeit in einem Krankenhaus, in dem Kranke und | |
Behinderte ermordet wurden, damit zu rechtfertigen, dass sie eigentlich | |
wissen wollte, wie sie das eine Kind, Ophelia, das ihr ans Herz gewachsen | |
war, retten konnte. | |
Es liegt also immer schon ein Rahmen des Misstrauens über den Szenen von | |
der Begegnung der beiden Frauen. Sie erlebt man in Rückblenden. Ophelia | |
umwirbt Gertrud, die anfangs nur einen Fall abhaken will, spielt mit ihr, | |
stellt ihr imaginierte Verwandte vor, führt sie in ihren Garten im | |
Gewächshaus. Dort hat sie ihr Vater, ein Militär, früher schamvoll | |
versteckt, wenn seine Besucher in glänzenden Uniformen kamen. | |
Aber Ophelia erinnert sich voller Liebe an den Vater, wie er sie am Ende | |
der Feste zu sich rief und dabei gibt sie jedem Vokal in ihrem Namen eine | |
Bedeutung. | |
## Als wären sie vergnügt | |
Die Anrührung, die in dieser Szene steckt, erreicht nicht nur Gertrud, | |
sondern auch das Publikum. Bald besucht Gertrud Ophelia an jedem Abend, sie | |
malen sich ein Essen auf Papier und spielen, sie wären vergnügt. Man kann | |
nachvollziehen, wie Gertrud, die an ihrem Arbeitsplatz gedemütigt wird und | |
immer mehr über die Selektionen erfährt, in diese Begegnungen flieht: als | |
ob hier eine Rettung für ihre Seele wäre. | |
Ihr Projekt, wenigstens Ophelia zu retten, nimmt aber – und da wird das | |
Drama zunehmend düster – bald unheimliche Züge an. Gertrud steht unter | |
Druck, die NS-Ideologie sitzt ihr im Nacken. Sie wird zur Komplizin. Sie | |
versucht, Ophelia zu erziehen, zu disziplinieren, zu einem nach den | |
Maßstäben der NS-Ideologen nützlichen Menschen zu machen. Wie Gertruds | |
Abwehr dieser Ideologie, deren perfide Argumentationen sie durchschaut, | |
dennoch langsam zusammenbricht, wie sie zu der wird, die sie nicht sein | |
will, spielt die zarte Maja Zećo mit Überzeugungskraft. | |
Am 27. Januar, dem Tag des Holocaust Gedenken, wurde das Stück erstmals in | |
Berlin aufgeführt. Einen Tag später war der Autor und Regisseur Pietro | |
Floridia selbst zu Gast im Theater unterm Dach. Er hat das Stück 2002 mit | |
zwei Schauspielerinnen in seinem Theater Compagnia Teatro dell’argine in | |
Bologna entwickelt. In Italien hatte es Thomas Müller gesehen und in seinem | |
Verlag Psychiatrie und Geschichte erstmals in deutsch publiziert. | |
Müller wies im Gespräch darauf hin, wie lange es in Deutschland gedauert | |
habe, bis das Programm der Vernichtung von Menschen, die als behindert | |
diagnostiziert wurden und das [2][seinen Namen T4 nach der Zentrale der | |
Planung in der Tiergartenstraße 4 in Berlin] erhielt, erinnert wurde. Heute | |
steht an der Tiergartenstraße 4 die Philharmonie. Für Müller ein Bild der | |
gebauten Verdrängung. | |
Das Stück selbst aber, das im Februar wieder gespielt wird, hält sich eng | |
an die Figuren von Ophelia und Gertrud, und ihre Entwicklungen zu verfolgen | |
fordert Verstand und Gefühl heraus. | |
31 Jan 2023 | |
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## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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