# taz.de -- Montagsinterview mit Rosemarie Pumb: "Berlin-Buch war ziemlich brau… | |
> Rosemarie Pumb hat fast ihr ganzes Leben in Berlin-Buch verbracht. Die | |
> Arbeitspsychologin im Ruhestand erforscht seit Jahren die Verstrickung | |
> der dortigen Krankenanstalten in die Euthanasiepolitik des | |
> Nationalsozialismus. | |
Bild: Rosemarie Pumb | |
taz: Frau Pumb, Sie sind 80 Jahre alt und haben sich in den letzten zehn | |
Jahren durch rund 50.000 Sterbeurkunden und Hunderte weitere | |
Archivdokumente gewühlt. Hat sich die Suche nach der Rolle Buchs im | |
Nationalsozialismus gelohnt? | |
Rosemarie Pumb: Oh ja, ich habe etliches zutage gefördert. Zum Beispiel, | |
dass in Buch mehrere Hundert Zwangsarbeiter verstorben sind. Vor allem aber | |
bekam ich ein klareres Bild von der Rolle, die die Bucher Krankenanstalten | |
im Nationalsozialismus gespielt haben. Wir haben, zusammen mit | |
Unterstützern, zwei Broschüren darüber herausgegeben. | |
Sie sagen, Buch sei ein sehr spezieller Ort. Warum? | |
Buch war bis etwa 1900 ein ganz gewöhnliches, nordöstlich von Berlin | |
gelegenes märkisches Dorf. Dann kaufte die Stadt Berlin 1898 dem Grafen Voß | |
hier ein Schloss und Ländereien ab. Auf dem Gelände legte die Stadt | |
Rieselfelder für die Abwasserentsorgung an und ließ fünf Krankenanstalten | |
mit mehr als 5.000 Betten für die rasant wachsende Großstadt bauen. Das | |
Dorf verwandelte sich dadurch völlig. In den 1930er Jahren gab es hier die | |
größten Krankenhäuser und Heilstätten Europas. | |
In Buch fallen einem einerseits die modernen Gebäude der heutigen | |
Helios-Kliniken oder auch des Max-Delbrück-Centrums für molekulare Medizin | |
auf. Andererseits stößt man auf alte, verfallene Krankenhausgebäude. | |
Für viele Menschen ist der Komplex der Krankenanstalten in Buch verwirrend, | |
denn immer wieder wechselten die Namen der Hospitäler oder Pflegeanstalten. | |
Das Gelände ist riesengroß, es gab unterirdische Gänge, die die Häuser | |
miteinander verbanden, die waren über fünf Kilometer lang. Einen Teil davon | |
hat man später zugeschüttet. In Berlin findet sich kein weiterer Ort, an | |
dem sich so viel Medizingeschichte konzentriert, darunter ab 1930 auch die | |
Hirnforschung und Genetik. Das machte Buch zu einem besonderen Ort im | |
Nationalsozialismus. Buch war ein ziemlich braunes Nest. | |
Sie wurden 1931 in Buch geboren und sind hier überwiegend aufgewachsen. Was | |
sind Ihre ersten Erinnerungen an den Nationalsozialismus? | |
Ich habe unauslöschbare Bilder aus meiner Kindheit im Kopf. Was da geschah, | |
war unerklärlich, ich spürte eine Bedrohung, auch wenn ich noch klein war. | |
Nach dem 9. November 1938, der Reichspogromnacht, ist mein Vater mit mir | |
nach Röntgental gelaufen, das liegt hier um die Ecke. Er hat mir dort ein | |
kleines, eher ärmliches jüdisches Geschäft gezeigt, das ganz zertrümmert | |
war. Das hat sich mir eingebrannt. In der Nachbarschaft wurde auch viel | |
über einen SS-Mann getuschelt, der alle sechs Wochen Urlaub bekam. Um sich | |
zu erholen, wie die Leute sagten. Er arbeitete in einem | |
Konzentrationslager. | |
Waren Ihre Eltern NS-Gegner? | |
Meine Großeltern und Eltern waren überzeugte, konservative Christen und aus | |
diesem Grund keine Nazianhänger. Mein Vater hat nachts häufig Radio London | |
gehört, die Erkennungsmelodie habe ich bis heute im Ohr. Er ist 1939 | |
eingezogen worden und hat den Krieg nicht überlebt. Als Zehnjährige wollte | |
ich aber gerne zu den Jungmädels, der NS-Organisation für die zehn bis 14 | |
Jahre alten Mädchen. Ich wollte da basteln, spielen oder singen. Aber meine | |
Mutter hat mich immer davon ferngehalten. Auch, weil ich mich um meine vier | |
jüngeren Geschwister kümmern musste. Vor allem um meine Schwester, die | |
aufgrund einer Krankheit eine Zeit lang blind war. Mir sind früh | |
Behinderungen begegnet, die die Nazis ausmerzen wollten, wie sie sagten. | |
Was genau ist in Buch zwischen 1933 und 1945 passiert? | |
Von hier aus wurden im Rahmen der offiziellen Euthanasieaktion aus der | |
Heil- und Pflegeanstalt, also der Irrenanstalt, wie es früher hieß, | |
Patienten abtransportiert. Sie wurden in Tötungsanstalten vor allem nach | |
Brandenburg und Bernburg gebracht und dort vergast. Für die Nazis waren | |
diese Menschen lebensunwert. Die ersten Transporte aus Buch gingen am 28. | |
und 30. März 1940. Man suchte dafür auch jüdische Patienten aus. | |
Weiß man, wie viele Menschen aus Buch abtransportiert und getötet wurden? | |
Viele Unterlagen wurden gegen Ende des Zweiten Weltkriegs gezielt | |
vernichtet. Zudem wurden Patienten mehrfach verlegt, um die Mordaktionen zu | |
tarnen. Man kann jedoch aus unterschiedlichen Dokumenten rekonstruieren, | |
dass deutlich mehr als 3.000 Patienten aus Buch verlegt und ermordet worden | |
sein müssen. Schon am 30. Oktober 1940 wurde die Heil- und Pflegeanstalt | |
offiziell geschlossen und vom Hufeland-Hospital übernommen. Die meisten der | |
ursprünglichen Patienten waren nicht mehr da. | |
In Buch selbst wurde niemand ermordet? | |
Lange Zeit hieß es, in Buch selbst sei kein Patient getötet worden. Das ist | |
sicherlich falsch. Buch ist ja Teil des Bezirks Pankow, also des Ostteils | |
der Stadt. Erst nach der Wende 1989 wurden etliche Archive überhaupt | |
zugänglich. Ich habe mir ab dem Jahr 2000 zuerst die Beisetzungsliste der | |
katholischen Kirche hier in Pankow angeschaut, um etwas über die in Buch | |
verstorbenen Zwangsarbeiter zu erfahren. Nach 2009 konnte ich dann auch die | |
Sterbeurkunden des Standesamts Pankow einsehen. Ich bin auf unglaubliche | |
Dinge gestoßen. | |
Was haben Sie gefunden? | |
Als die ersten Patienten im März 1940 aus Buch in Tötungsanstalten zur | |
Euthanasie verlegt wurden, starben in Buch im Ludwig-Hoffmann-Hospital, dem | |
ehemaligen Alte-Leute-Heim, zur gleichen Zeit enorm viele Menschen. Das | |
Hospital verfügte über 1.500 Betten – und allein 1940 starben dort 1.541 | |
Personen. Die Zahl der Toten beginnt bereits ab 1935 auffällig anzusteigen. | |
1942 gab es dann in allen Bucher Krankeneinrichtungen zusammen 5.695 Tote | |
in einem Jahr! | |
Woran lag das? | |
Ich gehe davon aus, dass viele Kranke durch Mangelernährung, | |
Vernachlässigung und durch das Spritzen von einer Überdosis Schlafmittel | |
gezielt ermordet wurden. Man weiß ja aus der Fachliteratur, dass im | |
Nationalsozialismus das Töten von Ballastexistenzen, wie dauerhaft Kranke | |
damals genannt wurden, als Dienst an der Volksgemeinschaft galt. Ältere | |
Bucher erzählen bis heute von Patiententötungen direkt hier vor Ort. | |
Haben Historiker sich der möglichen gezielten Krankenmorde in Buch selbst | |
angenommen? | |
Man hat Teilaspekte erforscht. Aber eine Arbeit, die sich gezielt und | |
eingehend diesem Thema widmet, steht noch aus. Es wäre mein großer Wunsch, | |
dass das passiert. Ich habe schon einiges zusammengetragen. | |
Buch hat noch eine andere Geschichte – die der Hirnforscher und ihrer | |
Kollaboration mit dem Mordsystem des Nationalsozialismus. | |
Ich muss mich da immer an ein Erlebnis von 1951 erinnern. Ich lief über das | |
Klinikgelände und wollte zur Friedhofskapelle, die gesprengt werden sollte. | |
Als ich dort hinkomme, stehen in der Sonne unter blauem Himmel lauter große | |
Gläser mit Gehirnen. Die waren in der Kapelle deponiert und man hatte sie | |
rausgeräumt. Es war gespenstisch, sehr traurig. | |
Was genau passierte in der Hirnforschung in Buch zwischen 1933 und 1945? | |
In Buch war das Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung, heute gehört es | |
zur Max-Planck-Gesellschaft. Wissenschaftler haben sich damals für | |
Forschungszwecke die Gehirne von Erwachsenen und Kindern anliefern lassen – | |
obwohl sie genau wussten, dass einige der Menschen durch Euthanasie | |
ermordet worden waren. Dieser Teil der Bucher Geschichte ist relativ gut | |
erforscht. Es war ein kompliziertes Geflecht von verschiedenen | |
Forschungseinrichtungen, der Heil- und Pflegeanstalt und den Netzwerken | |
verschiedener Wissenschaftler, die am Euthanasiesystem und der | |
Hirnforschung teilhatten. | |
Wussten die Bucher, was auf dem Klinikgelände passierte? | |
Ja, es gab viele, die eingebunden waren. Ärzte, die in Buch mit Familie | |
wohnten, Schwestern und Pfleger, die die Vorbereitungen trafen. Sie | |
beschrifteten Patienten, die abtransportiert wurden, zwischen den | |
Schulterblättern mit rotem Kopierstift. Und dann gab es noch die Fahrer, | |
die die Menschen transportierten. Unter der Hand wurde viel geredet. | |
Mindestens tausend Bucher müssen gewusst haben, was los war. Ich selber | |
habe schon als Kind mitbekommen, dass etwas nicht stimmen kann. | |
Erzählen Sie davon. | |
Ich habe als Kind oft durch den Zaun der Irrenanstalt, ich sage es immer | |
noch so, geschaut. Ich war neugierig. Diese Welt hinter Mauern und Zäunen | |
war für ein Kind ja unbegreiflich und fremd. Mit elf Jahren lag ich einmal | |
selbst einige Wochen im Krankenhaus. In meinem Zimmer war ein kleiner, | |
schwerbehinderter Junge, Iddi. Sein Bett war oft mit Tüchern verhangen, | |
aber er zog sie immer wieder weg. Eines Tages sagten die Schwestern: Ach, | |
es hat ja keinen Zweck, die Chefin bekommt es ja eh mit. Das beunruhigte | |
mich, obwohl ich es damals nicht ganz verstand. Vermutlich hat Iddi den | |
Krieg nicht überlebt. Es ist ja selbst in meiner Familie passiert. | |
Was genau? | |
Meine Cousine Christine hatte das Down-Syndrom, sie war gerade mal acht | |
Monate alt. Ihre Eltern lebten in Zwickau. Eines Tages kam eine | |
Fürsorgerin, weil die Geschwister von Christine Keuchhusten hatten. Die | |
Fürsorgerin drängte darauf, Christine abholen zu lassen. Angeblich, damit | |
sie sich nicht ansteckte. Erst wollten meine Tante und mein Onkel ihr Kind | |
nicht abgeben, dann taten sie es doch. Zwei Tage später war Christine tot. | |
Keiner hat offen gesagt, die haben die Christine umgebracht. Aber es | |
schwebte immer im Raum. | |
Nach dem Mauerfall haben Sie sich jahrelang durch Berge von Akten gekämpft. | |
Auch dank Ihres Engagements gibt es heute auf dem Gelände des | |
Hufeland-Campus eine Dauerausstellung über Euthanasie und eine Gedenktafel. | |
Woher kommt die Verpflichtung auf das Thema? | |
Ich habe ein gutes Erinnerungsvermögen, einer meiner zehn Enkel sagt immer: | |
besondere Antennen. Ich konnte viele Situationen nicht vergessen, wollte | |
die Welt etwas besser machen und alles dafür tun, dass nicht noch einmal so | |
Furchtbares passiert wie in der NS-Zeit. Vielleicht spielte auch eine | |
Rolle, dass ich unbedingt vor Gott bestehen wollte. | |
Das klingt nach einer sehr strengen christlichen Erziehung? | |
Ja, die bekamen wir. Ich habe die auch mehr angenommen als meine | |
Geschwister. Ich wollte ein gottgefälliges Leben führen. Mein erster | |
Berufswunsch war sogar Missionarin. Aber irgendwann merkte ich, ich bekomme | |
es nicht hin. | |
Sie haben sich dann beruflich zeitlebens mit Behinderungen befasst. | |
Ich habe in den 1950er Jahren Psychologie studiert und einen Abschluss in | |
Arbeitspsychologie gemacht. Danach war ich in Ostberlin für die berufliche | |
Rehabilitation von Hirn- und Nervengeschädigten zuständig. Ich habe | |
geschützte Werkstätten und Arbeitsplätze für sie mit aufgebaut. Auch in der | |
DDR war die Neigung, mit problembeladenen Menschen zu arbeiten, ja nicht | |
sonderlich groß. Die Leute fielen durch jedes Raster. | |
Und wie ging die DDR mit der braunen Vergangenheit Buchs um? | |
Sie hat das Thema gedeckelt. Auch weil Buch für die DDR weiterhin ein | |
wichtiger Medizinstandort war. Es gab sowohl in der BRD als auch der DDR | |
die typischen ununterbrochenen Ärztekarrieren. Dr. Wilhelm Bender ist ein | |
Paradebeispiel. Er leitete im Nationalsozialismus die Heil- und | |
Pflegeanstalt in Buch, war SA- und NSDAP-Mitglied und gehörte zum engsten | |
Kreis der Mediziner, die im Sommer 1939 mit Mitarbeitern der Kanzlei | |
Hitlers in der Tiergartenstraße 4 in Berlin den Euthanasiemassenmord | |
planten. Bender wurde nach dem Krieg SED-Mitglied, entnazifiziert und | |
Leiter der Heil- und Pflegeanstalt Wuhlgarten. | |
Wie reagieren denn die Einwohner von Buch auf Ihre Aktivitäten? | |
Lange Zeit bin ich als Wissenschaftsbeschmutzerin beschimpft worden. Jetzt | |
interessieren sich viele für das Thema, auf einer Veranstaltung im Februar | |
waren gut 150 Leute. Ich habe 1993 ja auch die Lokalzeitung Bucher Bote | |
mitgegründet, bis heute arbeite ich da ehrenamtlich mit. Kurz nach der | |
Wende brauchten auch viele MigrantInnen in Buch Unterstützung, wir | |
gründeten die Beratungsstelle Oase e. V. Es gab immer viel zu tun. | |
Gab es auch Zeit zum Ausruhen? | |
Das Thema Euthanasie in Buch lässt mich nicht los. Aber ich ruhe mich schon | |
ab und zu auf dem Sofa aus. Ich bin ja auch schon 80. Jetzt wünsche ich | |
mir, dass andere die Geschichte Buchs weitererforschen. Vielleicht findet | |
auch mal jemand die Patientenakte von Franz Biberkopf. Der Schriftsteller | |
Alfred Döblin hat in Buch zwischen 1906 und 1908 als Assistenzarzt | |
gearbeitet. Das hat ihn zu der Figur des Biberkopf im Roman „Berlin | |
Alexanderplatz“ inspiriert. | |
15 Apr 2012 | |
## AUTOREN | |
Eva Völpel | |
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Theater | |
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