| # taz.de -- Ulm und Neu-Ulm in Städtekonkurrenz: Unterschätzte kleine Schwest… | |
| > Neu-Ulm hat anders als das größere Ulm keine lange Geschichte, dafür | |
| > einen griffigen Slogan: „Wir leben neu“. Hat die Stadt was zu bieten? | |
| Bild: Mit Blick auf den Betonklotz: Auf der Herdbrücke geht es über die Donau… | |
| Neu-Ulm taz | Einen winzigen Schritt noch, und man steht nicht mehr in Ulm, | |
| sondern in Neu-Ulm, und damit auch nicht mehr in Baden-Württemberg, sondern | |
| in Bayern. Wird es krachlederner? Nicht wirklich. | |
| Die Markierung befindet sich auf der Mitte der Herdbrücke, welche die | |
| beiden Schwesterstädte über die Donau hinweg verbindet. Während [1][Ulm | |
| seine Besucher mit Spitzgiebligem und Stadttürmen empfängt], lässt Neu-Ulm | |
| einen krawalligen Betonklotz aus den 1970ern den Stadteingang markieren. | |
| Neu-Ulm ist schon ziemlich eigen. Den Auftakt könnte man als trotziges | |
| Statement sehen, gemünzt an die ziemlich beste Schwester vis-à-vis: Du | |
| immer mit deinem ollen Gedöns. | |
| ## Glanz und Historie, auf der anderen Seite der Donau | |
| Was Geschichtliches und Heimatliches betrifft, konnte Neu-Ulm mit dem | |
| Gegenüber noch nie mithalten. Ulm besitzt sein Fischerviertel, sein | |
| Münster, den Glanz der Historie als freie Reichsstadt – und den Vorzug, | |
| schon lange vor Neu-Ulm dagewesen zu sein. Es inszeniert diesen Umstand | |
| alljährlich mit dem im Mittelalter verankerten Schwörmontag, zu dem das | |
| karnevaleske „Nabada“ („Hinunterbaden“) gehört. | |
| Einen Albert Einstein, in Ulm geboren, hat die viel jüngere Schwester | |
| ebenfalls nicht hervorgebracht. Der [2][„Schneider von Ulm“], posthum als | |
| Flugpionier anerkannt, gehört dem Gegenüber. Wäre Albrecht Berblingers | |
| Gleitflugversuch über die Donau geglückt in jenem Mai 1811, wäre er auch | |
| nicht in Neu-Ulm gelandet, sondern im Nirgendwo inmitten einer Zeitenwende. | |
| Denn Neu-Ulm gab es damals noch gar nicht. Wo er hätte landen wollen, lag | |
| ein weitgehend freies und allenfalls mit Gärten bestandenes Gelände. Jedoch | |
| war dieses kurz zuvor zum Inhalt geworden eines königlichen Erlasses aus | |
| dem fernen München. Die politische Gemeinde „auf dem rechten Donauufer“ | |
| sollte darauf aus dem Boden gestampft werden. Alles eine Folge von | |
| Napoleons Neuordnung der Lande. Die Donau war zum Grenzfluss zweier neuer | |
| Königreiche geworden: Württemberg und Bayern. Ulm landete in | |
| Baden-Württemberg, Neu-Ulm in Bayern. | |
| Die Benamsung zu „Neu-Ulm“ entstand eher aus einer Beiläufigkeit heraus. | |
| Die bayerische Zentrale investierte in einen Polizeistützpunkt und eine | |
| kleine Kaserne, ansonsten lief zunächst nicht viel. Ein strukturschwaches | |
| Kaff war Neu-Ulm selbst noch 1869, als es offiziell zur Stadt erhoben | |
| wurde. Wer dort aufwuchs, lief ständig Militärs über den Weg. Was den | |
| Bildhauer Edwin Scharff (1887–1955), großer Sohn der Stadt, zu einem | |
| zitierfähigen Stoßseufzer hinreißen ließ über dieses „in den siebziger | |
| Jahren gebaute, elende Nest, in dessen Mitte eine riesige Kaserne wie ein | |
| fürchterliches Gefängnis liegt“. | |
| ## Die Frage des Herkommens | |
| Reden wir über das Schicksalhafte, muss angeführt werden, dass Neu-Ulmer | |
| bei der Herkunftserklärung meist ein „bei Ulm“ hinzufügen müssen. Ulmer | |
| („zwischen Stuttgart und München“) überfällt solche Erklärungsnot erst … | |
| weit weg. Aber ist das nicht das Los aller aus Dings, dass sie lediglich | |
| „bei“ wohnen? Die Identitätstankstelle muss dann halt Ersatzkraftstoff | |
| liefern. | |
| Zu Beginn waren sie „drüben“ gerade einmal zu hundertzwölft. Wollten die | |
| Ulmer die ausgebürgerten Brüder und Schwestern in der Zone rechten | |
| Donauufers besuchen, waren sie allerhand Schikanen ausgesetzt. Doch | |
| „Ehemalige“ waren auch sie selbst: Ex-Reichsstädter, mächtig angeknackst … | |
| ihrem Stolz und außerdem stocksauer, da nun dank Napoleon durch | |
| Zollschranken vom eigenen Großgrundbesitz über der Donau getrennt. Das | |
| wirkte nach, ein schlechtes Verhältnis untereinander war da fast | |
| zwangsläufig. Plan war nun, die kleinere Schwester zu einem Gegen-Ulm zu | |
| entwickeln, mit einem geometrisch korrekten Straßennetz und konträren | |
| Bauformen. Identität qua zeitgemäßem Bauen. | |
| Als Mitte des 19. Jahrhunderts der mächtige Kranz der Bundesfestung um Ulm | |
| wie Neu-Ulm mit ihren Bastionen, Toren und Forts hochgezogen wurde, sahen | |
| sich plötzlich beide im gleichen Käfig gefangen. Ist dann aber keine | |
| geschwisterliche Zweisamkeit daraus geworden. | |
| Neu-Ulm-Bashing ist wirklich nicht witzig. Als Neu-Ulmer muss man trotzdem | |
| stark sein. Und Scherze der Sorte aushalten, wie sie unlängst die | |
| Fernsehmoderatorin Caro Matzko vom Stapel ließ. Hoho, ihre frühere Heimat | |
| hält sie also „eigentlich“ für ein Gewerbegebiet von Ulm. | |
| Sie stammt übrigens aus einem Stadtteil, in dem jener Neu-Ulmer | |
| Oberbürgermeister wohnte, der in den 1980ern den bislang süffigsten Skandal | |
| der Stadt lieferte. Überliefert ist, dass er in einer halböffentlichen | |
| heiteren Runde den Stiefel einer Dame mit Getränk befüllte – und es trank. | |
| Wirklich ärgerlich schamlos aber war das Verhalten des örtlichen MdB | |
| (natürlich ebenfalls CSU), der sich persönlich mit einem Maskendeal | |
| bereicherte. Da merkt man eben doch, dass man in Bayern ist. Ist Alkohol | |
| bei den Schamlosigkeiten mit im Spiel, gilt es als wahrscheinlicher, dass | |
| einem im Himmel alles vergeben wird. | |
| ## Traumata und Verletzungen, weitgehend verheilt | |
| Immer wieder haben die beiden Schwestern miteinander schwierige Phasen | |
| durchgemacht. Heute aber sind Traumata und Verletzungen aus ihrer | |
| wechselvollen Familiengeschichte weitgehend verheilt. In zwei | |
| Städteverträgen haben sie ihre Dinge geregelt. Wie in einem Ehevertrag. | |
| Seither gilt die „grundsätzliche Verpflichtung zu Gemeinschaftslösungen“. | |
| Neu-Ulm bekam dann gleich mal das Erlebnisbad und die | |
| Großveranstaltungshalle ab. | |
| Die kleine Schwester, längst kein Aschenputtel mehr, hat in den vergangenen | |
| Jahrzehnten eine rasante Entwicklung genommen, die Strukturpolitik schlug | |
| an. Eine Stadt zum richtig Liebhaben ist Neu-Ulm aber immer noch nicht. | |
| Pittoreskes muss man suchen, Fischerviertel und Fachwerk auf der anderen | |
| Seite der Donau zielen nun mal mehr in die Tiefen des Gemüts als der | |
| „Südstadtbogen“. So nennen sie in Neu-Ulm einen Stapel aus 450 Wohnungen. | |
| Hinter dem derzeit größten Innenstadtprojekt steckt ein monofunktionaler | |
| Investorenkomplex, der einmal so gut wie nichts zur urbanen Belebung der | |
| Stadt beitragen wird. | |
| Neu-Ulm macht es einem immer wieder verdammt schwer. Es hatte mal was | |
| Funkelndes, Sprühendes, damals nach dem Abzug des US-Militärs in den | |
| 1990ern. In die Hinterlassenschaften zogen Künstler, Clubs, Kreative. Heute | |
| befinden sich im einstigen Glitzermeer der neue Stadtteil Wiley und die | |
| junge Hochschule. Sie ist das Gegengewicht zur ein Vierteljahrhundert | |
| älteren Universität Ulm. So wie die eigene Shopping-Mall ein Gegengewicht | |
| bilden sollte zum Einkaufstrumm, das in Ulm eben abgewickelt wird. | |
| Beim Großkino war Neu-Ulm einmal schneller. „Wir leben neu“, plakatieren | |
| sie die rasante Stadtentwicklung, mit der die meisten Szeneorte | |
| verschwunden sind. In Ulm ist das übrigens nicht viel anders. Beim | |
| Verschlingen von kulturellen Biotopen sind sie beide unersättlich. Wo aber | |
| ist der derzeit angesagteste Liveclub? Den [3][„Gold“] hat Neu-Ulm. | |
| Die Wiedervereinigung von Ulm und Neu-Ulm stand nie auf der Tagesordnung. | |
| Der Ulmer NS-Bürgermeister hatte es mal versucht, vergebens. Gedacht als | |
| originelle Idee wird diese seither höchstens noch ab und an von der | |
| örtlichen FDP lanciert, wenn Wahlkampf ist. Ob eine Fusion tatsächlich | |
| Synergieeffekte bringen würde, wäre erst noch zu klären. Und was würde das | |
| mit den Neu-Ulmern machen? Hat nie jemand ermittelt. | |
| Als kleine Schwester (64.000 Einwohner gegenüber 127.000) hat man ja auch | |
| Vorteile. Man erspart sich ein teures Theater, kann man doch das der großen | |
| Schwester mitbenutzen. Ähnlich mit der Straßenbahn, kann man doch auch | |
| drüben eine Runde drehen. Und man ist als Jüngere immer mal wieder mit im | |
| Boot bei größeren, gemeinsam ausgeheckten Projekten. | |
| Ihr Verhältnis ist derzeit entspannt. Sie zelebrieren das symbolisch mit | |
| ihrem gemeinsamen Neujahrsempfang, der abwechselnd mal hüben, mal drüben | |
| ausgetragen wird. Längst haben die beiden Lokalzeitungen die Trennung in | |
| Ulmer und Neu-Ulmer Seiten aufgelöst. Einen Schritt weiter noch ging das | |
| gemeinsame Tourismusbüro, das die „Zweilandstadt“ erfunden hat. Geht doch. | |
| Nur mal so rumgesponnen: Neu-Ulm würde morgen wirklich zum Stadtteil von | |
| Ulm, ausgerechnet jetzt, da es so deutlich an Statur zugelegt hat. Wo sich | |
| das identitätslevelmäßig einpendeln würde? Weiß doch kein Mensch. | |
| 28 Jan 2023 | |
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| Thomas Vogel | |
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