# taz.de -- Vor den Wahlen in Baden-Württemberg: Ulm, du verkanntes Genie! | |
> Die Stadt ist mehr als ein bloßer Namenswitz. Hier verbergen sich | |
> Pioniercharakter, Ironiefähigkeit – und ein Rest echter Schwäbischkeit. | |
Bild: Denkmal für den einst geschmähten „Schneider von Ulm“, Installation… | |
ULM taz | Läuft man auf der boulevardbreiten Ulmer Stadtmauer um Ulm herum, | |
staunt man als Nichtulmer vor allem über die Nichtulmigkeit von Ulm. Über | |
Ulm weiß man als Nichtulmer ja nur, dass es ein Umland von Ulm geben muss | |
und man zur Aussprache des Namens einen auf halbem Wege stecken bleibenden | |
Würgelaut zu imitieren hat. | |
Aber dass es nicht nur um Ulm herum schön ist (Neu-Ulm, Schwäbische Alb, | |
Bayern), sondern auch untenrum (Donau, traufständiges Fachwerk mit | |
Schleppgauben, größter Kirchturm der Welt), obenrum (Eselsberg, größte | |
Festung Europas, Science Park I bis III) und innendrin (mediterranes | |
Ambiente mit Fischerviertel und Kanälen, das seit 1910 bestehende „Café | |
Mohrenköpfle“, 100 % vegane Cigköfte bei Urfalim in der Schuhhausgasse) – | |
wer wusste davon? | |
Albert Einstein, Hildegard Knef, die älteste Verfassung einer deutschen | |
Stadt – geschenkt. Aber womöglich begann in Ulm sogar auch noch der | |
deutsche Feminismus: 1491 ergaben sich die Stadtväter dem Kampf der Ulmer | |
Metzgerinnen, die ein Jahr lang gegen das Berufsverbot für Frauen in | |
Schlachtbetrieben protestiert hatten. Es ist beschämend, ahnunglos ganz Ulm | |
immer nur des Namens wegen verspottet zu haben. | |
Doch dieses Schicksal scheint an der Stadt zu kleben wie ein Spätzle am | |
anderen. | |
## Erste Flugversuche | |
Bei Bertolt Brecht hat man vielleicht mal was vom „Schneider von Ulm“ | |
gelesen – dem als Fantast und Spinner geschmähten Ulmer Albrecht Ludwig | |
Berblinger, der aus Stoff, Schnüren und Fischbein die erste Konstruktion | |
für einen Gleitflieger ausgetüftelt hatte. Blöderweise ging sein | |
Jungfernflug 1811 über die Donau schief: Berblinger landete samt seiner | |
Konstruktion unter dem Gelächter Tausender Schaulustiger in den Fluten. | |
Dem Fall ins Wasser folgte der Absturz im Leben: Als Betrüger gebrandmarkt, | |
blieb seine Schneiderwerkstatt leer, und der Mann, der auch die erste | |
Beinprothese mit Gelenk erfunden hatte, starb bettelarm, einsam und | |
verkannt. Sein Fluggleiter wurde auf einem Scheiterhaufen verbrannt und | |
sein Genie erst hundert Jahre später erkannt. | |
Seit letztem Jahr steht da, wo einst der Luftfahrtpionier aus 20 Meter Höhe | |
losflog, ein Denkmal: der Berblinger-Turm, eine 20 Meter hohe Wendeltreppe, | |
die mit einer 10-Grad-Neigung über den Fluss ragt. Die Konstrukteure haben | |
sich in Farbe und Form an den Zeichnungen des Berblinger-Flugapparates | |
orientiert. | |
Um den Ort zu sehen, an dem der zu Unrecht geschmähte Schneider ins Wasser | |
plumpste, kommt man heute allerdings kaum nach Ulm. Sondern fast | |
ausschließlich „wegen der Arbeit“ – wie einige befragte Passanten an der | |
Donau sagen. | |
## Technik ohne Technik | |
Zwar wurde Ulm weder dafür berühmt, die Boeing oder den Jumbojet gebaut zu | |
haben, dafür aber Omnibusse, Lkws und Feuerwehrwagen. Mit den Ulmern | |
Magirus und Kässbohrer sind ganze Generationen von Schulklassen und | |
Senioren ins Grüne gefahren. | |
Heute ist Ulm dabei, die Ruinen des Industriezeitalters loszuwerden, und | |
setzt voll auf Digitaltechnologie. Symbolträchtig gibt es vom Bahnhof aus | |
nur Tram- und Busverbindungen, deren Endhaltestelle „Wissenschaftsstadt“ | |
oder „Science Park II“ heißen. | |
Digitaltechnologiestandort hin oder her: auch in Ulms Trams und Bussen gibt | |
es keine Handyladestationen und man muss bei akutem Akkuschwund im | |
Friseurladen „Haargenau“ (nahe der Straße „Irrgängle“) fragen, ob man… | |
kurz die Steckdose benutzen kann. | |
Zum „Science Park II“ führt der Weg steil den Eselsberg hinauf. Man | |
passiert das „Autohaus Ilkay (in Ulm leben 140 Nationen) und | |
Schuttlandschaften aus eingerissenen Häusern. Ein Wind von 1945 weht vorbei | |
– entsteht hier ein neues Wirtschaftswunder? | |
## Auf ein paar Maultaschen | |
An erfolgreichen Produkten jedenfalls wird hier oben eifrig getüftelt und | |
gebastelt. Hier thront die Universität – der größte Arbeitgeber Ulms. Und | |
um die Uni herum lockt die Stadt auf großflächig versiegeltem Gelände | |
Firmen an. Mit dem Versprechen, dass die Forschung fußläufig erreichbar | |
sei. So erhofft man sich, an die alten Erfolge der Fluggleiter, Omnibusse | |
und Lkws anknüpfen, die Wege zwischen Wissenschaft und Wirtschaft verkürzen | |
zu können. Dicke wie Daimler sitzen hier genau so wie schlanke Start-ups. | |
„Die Glühbirne wird hier nicht nochmal erfunden“, sagt ein junger | |
Angestellter von Elektrobit, einer Tochter von Continental, die Software | |
für Autos entwicklen. Er macht grade Mittagspause. „Wir verbessern | |
eigentlich nur, was sowieso schon da ist.“ Sympathisch bescheiden, der | |
Mann. Allerdings kommt er, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen | |
will, aus dem auf der anderen Seite der Donau gelegenen, bayerischen | |
Neu-Ulm. | |
Sein in Ulm geborener Kollege, der seinen Namen ebenfalls nicht in der | |
Zeitung lesen will, antwortet: „Klar.“ Beide essen Maultaschen mit | |
Kartoffelsalat, die sie beim Imbisswagen „Herr von Schwaben“ vor dem | |
Gebäude von „Scanplus“ gekauft haben. „Manchmal hab ich auch Spätzle von | |
gestern dabei“, antwortet der Neu-Ulmer in ironischer Tonlage auf die | |
Frage, ob er immer Maultaschen esse. Ob der in Ulm geborene Kollege das | |
auch so macht? „Klar.“ | |
Ganz früher kam man nach Ulm nicht wegen der Arbeit. Man kam hierher, um | |
von hier wegzukommen: Im 17. und 18. Jahrhundert starteten von Ulm aus die | |
„Ulmer Schachteln“ genannten Transportruderboote, mit denen deutsche | |
Auswanderer auf der Suche nach Arbeit in den neuen südosteuropäischen | |
Ländern des Habsburgerreichs die Donau abwärts bis ans Schwarze Meer | |
schipperten. Man nannte sie „Donauschwaben“. | |
## Kann Spuren von Schwaben enthalten | |
Bis heute bezeichnet man auf dem Balkan Deutsche gerne als „Švabo“ (sprich | |
Schwabo). Aber nur dann, wenn man damit einen Typen meint, der die | |
Eigenschaften geizig, ordentlich und fleißig hat. | |
Die armen Schwaben. Andererseits bezeichnen die wiederum den Balkan auch | |
gerne als „da unten“. Würden es die da unten jedenfalls mit der Geschichte | |
ernster nehmen, müssten die tpyischen Deutsche auf dem Balkan eher Ulmer | |
genannt werden. | |
„In Ulm wird keine Straße mehr gekehrt. Das machen die Schwaben nur noch im | |
Prenzlauer Berg“, behauptet eine Frau, die vor dem Imbisswagen „Herr von | |
Schwaben“ auf ihre Maultauschen wartet. Sie will weder ihren Namen in der | |
Zeitung lesen, noch verrät sie, für welche Firma sie arbeitet. Aber ihr | |
Alter: „Mitte 50“. Und ihren Geburtsort: „Ulm“. „Wir sind eine | |
internationale Stadt (126.000 Einwohner, Anm. d. Red.) und Kreuzberg | |
(153.000 Einwohner, Anm. d. Red.) ein schwäbisches Nest.“ | |
## Ordnung muss sein | |
Ein bisschen Schwaben findet man dann aber doch in Ulm: Auf der Homepage | |
der Stadt. Dort gibt es die Rubrik „Mängel melden“. Ein | |
„Anliegenmanagement“ kümmert sich hier um die Probleme, die so angezeigt | |
werden: „Scherben am Weg. Ort: Pfefflinger Str. 3, 89073 Ulm. | |
Meldungnummer: 778435. Gemeldet am: 8. 3. 2021 via: android. Kategorie: | |
Müll und Abfall > Scherben. Status: in Bearbeitung.“ | |
Andere Themen sind „wilder Müll/Windeln“, „Wiederholte Vermüllung mit | |
Fastfoodmüll“, „Gelbe Säcke mit teilweise falschen (sic!) Inhalt“. Klic… | |
man auf die Meldung, geht ein Fenster mit einer detaillierteren | |
Beschreibung des Problems auf, und mit einem weiteren Klick landet man auf | |
einer interaktiven Stadtkarte, in der die gemeldeten „Probleme“ mit | |
entsprechenden Aufstellern markiert sind. | |
Auch da kann man dann wieder draufklicken und sich ein Bild machen über den | |
Vermüllungsgrad, den Straßenzustand, die Mülleimersituation und die anderen | |
Anliegen. Die meisten haben den Status: „gelöst“. | |
12 Mar 2021 | |
## AUTOREN | |
Doris Akrap | |
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