# taz.de -- Strategien des Arbeitskampfes: „Wir sprechen für uns selbst!“ | |
> Um wieder in die Offensive zu kommen, müssen Gewerkschaften von den | |
> Beschäftigten getragen werden, sagen Max Manzey und David Wetzel von | |
> Verdi. | |
Bild: Wie sang Rio einst? „Allein machen sie dich ein“ | |
taz: Herr Manzey, Herr Wetzel, Sie haben in dem kürzlich veröffentlichten | |
Buch der Berliner Krankenhausbewegung einen Beitrag über die neuen | |
Streikmethoden geschrieben, die beim Arbeitskampf 2021 zum Einsatz kamen. | |
Was lief in diesem Streik anders als in vorherigen? | |
David Wetzel: Es war wirklich ein Arbeitskampf von uns Beschäftigten, der | |
von einer politischen Druckkampagne begleitet wurde. Die Gewerkschaft saß | |
nicht neben uns und den Arbeitgeber:innen als Dritte am Tisch, sondern | |
wir haben gesagt: Verdi ist unsere Gewerkschaft, wir sprechen für uns | |
selbst! Ich bin überzeugt, dass das für unseren Erfolg zentral war. | |
Was ist die Kernidee des neuen Ansatzes, den Sie verfolgt haben? | |
Max Manzey: Wir haben uns an den Organizing-Methoden von Jane McAlevey | |
orientiert. Bei McAlevey geht es darum, wie Gewerkschaften wieder in die | |
Offensive kommen und gewinnen können. [1][Wie hohe Forderungen durchgesetzt | |
werden können, die wirklich lebensverändernde, materielle Erfolge für die | |
Beschäftigten sind.] Zur Durchsetzung solcher Forderungen, sagt McAlevey, | |
muss man „super majority strikes“ machen, also Streiks, an denen sich 80 | |
bis 90 Prozent der Beschäftigten beteiligen. Damit das klappt, müssen sich | |
die Beschäftigten im Organizing-Prozess selbst ermächtigen. | |
Wer ist Jane McAlevey? | |
Wetzel: Sie ist eine Organizerin aus den USA, die ursprünglich aus der | |
Klimabewegung kommt, dann aber zur Gewerkschaftsarbeit gewechselt ist und | |
seit Beginn der 2000er Jahre große Kampagnen in den USA durchführt. Wir, | |
also einige gewerkschaftlich aktive Beschäftigte von Charité und Vivantes, | |
sind 2019 auf der Veranstaltungsreihe „Organizing for Power“der | |
Rosa-Luxemburg-Stiftung auf ihre Theorie gestoßen. Wir waren sofort | |
begeistert. Wir suchen ja seit Jahren nach Möglichkeiten, auch im | |
Gesundheitssektor effektiv zu streiken. Da war klar: Diesen | |
Organizing-Werkzeugkasten wollen wir nutzen. | |
Wie laufen denn Arbeitskämpfe in klassischer Form ab? | |
Wetzel: Die meisten Streiks sind in Deutschland Minderheitenstreiks. Die | |
Auseinandersetzungen werden von einem kleinen Kern aktiver Beschäftigter | |
getragen, die in der Tarif- oder Verhandlungskommission aktiv sind. Es ist | |
aber ein ziemlicher Hemmschuh, wenn die Beschäftigten zu wenig einbezogen | |
werden und das Gefühl bekommen, dass ihre Stimme gar nicht zählt, dass sie | |
gar nicht in die Verhandlungen einbezogen werden. | |
Was haben Sie konkret anders gemacht? | |
Manzey: Am Anfang so einer Kampagne steht ja meist eine | |
Unterschriftenpetition, in der sich die Beschäftigten hinter die | |
Forderungen stellen. Traditionell gehen da drei, vier Aktivist:innen | |
von Station zu Station und sagen: „Unterschreibt!“ Das war bei uns streng | |
verboten. Wir wollten ein möglichst starkes Netzwerk von Beschäftigten | |
aufbauen. Im ersten Schritt haben deshalb die aktiven Beschäftigten und | |
gewerkschaftliche Organizer*innen in jedem Bereich organische | |
Führungspersonen ausfindig gemacht, die dafür die Verantwortung übernehmen. | |
Was meinen Sie damit – organische Führungsfiguren? | |
Wetzel: Wir gehen davon aus, dass es in jedem Arbeitsplatz soziale | |
Strukturen gibt. Es gibt alte Hasen, junge Kolleg:innen, solche, die dies | |
oder das besser können – und deshalb einen besonderen Einfluss auf das Team | |
ausüben. Zum Beispiel ist klar, wenn ich eine Pflegefrage habe, gehe ich | |
zum Kollegen Max, wenn ich ein Problem mit der Leitung habe, gehe ich zu | |
Kollegin Silvia. Für die Bewegung ist es ungemein wichtig, diese Leute für | |
unsere Sache zu gewinnen. Weil klar ist: Stellt sich Kollegin Silvia hinter | |
die Forderungen, ziehen die anderen auch mit. | |
Von besonderer Bedeutung seien jene Kolleg:innen gewesen, die | |
Gewerkschaften kritisch sehen, schreiben Sie im Buch. | |
Manzey: Die Organizer:innen haben viele Einzelgespräche mit | |
Kolleg:innen geführt, wo Fragen zur Gewerkschaft und der | |
Auseinandersetzung geklärt werden können. Ich selbst habe ja als Organizer | |
gearbeitet. Das Spannende war, dass wir gesagt haben: Jedes Team muss seine | |
eigenen Forderungen aufstellen, welche Personalbesetzung nötig ist, um die | |
Patient*innen gut versorgen zu können, ohne selbst dabei kaputtzugehen. | |
Da haben viele dieser Kolleg:innen gemerkt: Hier kommen wir an Fragen | |
heran, die wirklich relevant sind, wo ich wirklich was verändern kann, wenn | |
ich mich einbringe. | |
Nachdem alle Bereiche ihre Forderungen gebildet haben, wurden Sie am 9. | |
Juli 2021 in der Alten Försterei in einem Großevent zusammengetragen. Wie | |
ging es weiter mit der Mitbestimmung? | |
Wetzel: Zusätzlich zur Tarif- und Verhandlungskommission hat jede Station | |
Teamdelegierte gewählt, die bei allen Verhandlungen im Nebenraum saßen. Ich | |
war als Mitglied der Tarifkommission bei den Verhandlungsrunden in der | |
Charité dabei. Da saßen über 100 Delegierte im vollgepackten Nebenraum! Bei | |
jeder wichtigen Entscheidung ist die Kommission raus und hat das Votum der | |
Delegierten abgeholt. Und wenn über eine bestimmte Station verhandelt | |
wurde, ist ein:e Vertreter:in dieser Station in die Verhandlungen | |
einbezogen worden. | |
Der Arbeitskampf wurde auch mit politischen Mitteln geführt. | |
Manzey: Ja, wir haben von Anfang an die Stadtgesellschaft miteinbezogen, | |
weil die Gesundheitsversorgung ja auch alle angeht. Klar, erst mal ging es | |
um einen Tarifvertrag. Aber es braucht auch eine andere | |
Krankenhausfinanzierung, die Abschaffung des Fallpauschalsystems, eine | |
gesetzlich vorgeschriebene Personalbemessung. Die Ökonomisierung des | |
Gesundheitssystems zu bekämpfen ist unser langfristiges Ziel, für welches | |
die Krankenhausstreiks nur ein Zwischenschritt sind. In Berlin waren | |
Wahlen, weshalb wir von Anfang an darauf geachtet haben, dass auch die | |
Landesregierung Farbe bekennen muss. | |
Kommen diese Methoden überall gut an? | |
Manzey: Es gibt in Verdi eine Debatte darüber, was die richtige Antwort auf | |
den Mitgliederrückgang der letzten Jahrzehnte ist. Und da finden sich | |
natürlich unterschiedliche Antworten. Zu dieser Diskussion wollen wir mit | |
dem Buch einen Beitrag leisten. Ich glaube, die Berliner | |
Krankenhausbewegung hat gezeigt, dass Organizing-Methoden zum Erfolg | |
führen. Und das ist ja der springende Punkt. | |
Aber geht eine Selbstermächtigung der Beschäftigten nicht mit einer | |
Entmachtung von Gewerkschaftssekretären einher? | |
Wetzel: So würde ich es nicht sagen. In Berlin haben wir die ganze Kampagne | |
gemeinsam mit unseren zuständigen Gewerkschaftssekretär:innen | |
entwickelt und umgesetzt. Das Resultat war mehr Durchsetzungsmacht für uns | |
alle. Die Frage ist ja, wie wir als Gewerkschaft wieder in die Offensive | |
kommen. Ich denke, dass dieses Herangehen eine Antwort darauf sein kann, | |
weshalb auch immer mehr haupt- und ehrenamtliche Kolleg:innen auf diese | |
Methoden setzen. | |
Wurden die Methoden in Berlin zum ersten Mal angewendet? | |
Wetzel: Nun ja, das ist natürlich ein längerer Prozess, der sich nicht an | |
einem Datum aufhängen lässt. Erstmals für Personalbemessungen gestreikt | |
wurde bundesweit in der Charité 2015. Das war der Stein des Anstoßes für | |
die Klinikstreiks, die seitdem von Stadt zu Stadt wandern. Bei jedem dieser | |
Kämpfe verbessern wir unsere Methodik und Forderungen. Einige Elemente | |
kamen schon bei den Krankenhauskämpfen in Mainz und Jena zum Einsatz. Neu | |
in Berlin war unsere auf neun Monate ausgelegte Kampagne mit einer | |
betrieblichen und einer politischen Schiene. | |
Aus Ihrer Perspektive als Pfleger gesprochen, Herr Wetzel. Was ist Ihr | |
Resümee nach über einem Jahr Tarifvertrag Entlastung? | |
Wetzel: Meine Station hat von den neuen Regelungen total profitiert, weil | |
wir jetzt wirklich in besserer Besetzung arbeiten. Und es gibt Bereiche, wo | |
das Personal trotzdem noch schwindet. Gegen die Personalflucht ist auch der | |
Tarifvertrag kein Allheilmittel. Schon für die Psyche wirklich wichtig ist | |
aber, dass man nun klar weiß, wenn man in Unterbesetzung arbeitet, dass man | |
sich nicht immer diese Vorwürfe macht. Und es gibt den Belastungsausgleich: | |
Wer in Unterbesetzung arbeitet, erhält Urlaubstage. Bei der Charité sind | |
das für die meisten Beschäftigten dieses Jahr 10, nächstes Jahr sogar bis | |
zu 15 Urlaubstage. Das ist wichtige Regenerationszeit. | |
Nun laufen die Verhandlungen zum [2][Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes | |
(TVöD)], wo es im Krankenhausbereich nicht um Personalbemessungen, sondern | |
um Gehälter geht. Verdi fordert 10,5 Prozent mehr Lohn beziehungsweise | |
mindestens 500 Euro mehr für alle. Setzt Verdi auch in dieser | |
Auseinandersetzung auf die neuen Methoden? | |
Wetzel: Ja, natürlich. Auch bundesweit gibt es jetzt mit den sogenannten | |
Tarifbotschafter*innen eine höhere Beteiligung der Beschäftigten. Es | |
fand eine große Forderungsbefragung im Vorfeld der Auseinandersetzung | |
statt. In den Krankenhäusern merken wir schon, wie sehr sich die | |
Einstellung inzwischen verändert hat. Die Kolleg:innen fragen nicht | |
mehr, warum wir überhaupt kämpfen sollen, sondern fragen: „Um was geht es? | |
Wie packen wir das an?“ Das bestärkt uns in unseren Methoden. | |
Wird auch dieser Arbeitskampf politisch geführt? | |
Matzel: Natürlich wollen wir wieder die Stadtgesellschaft gewinnen, uns zu | |
unterstützen. Sollte es wieder zu Streiks kommen, werden es diesmal auch | |
nicht nur die Krankenhäuser in Berlin sein! Auch die Berliner | |
Stadtreinigung, die Berliner Wasserbetriebe oder das Studierendenwerk sind | |
Teil der Tarifbewegung im öffentlichen Dienst. Falls es notwendig wird, | |
können die Beschäftigten im öffentlichen Dienst mit ihren Streiks das | |
Stadtleben in Teilen lahmlegen. Krankenhäuser im Notbetrieb, Müll auf den | |
Straßen, die Mensen an den Unis dicht. Ich bin sicher, die kommenden Monate | |
werden spannend. | |
1 Feb 2023 | |
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## AUTOREN | |
Timm Kühn | |
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