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# taz.de -- Die Wahrheit: „De Iwan hett hier nix to söken!“
> Das gesamte Jeverland ist in Gefahr: Werden im März die Russen
> einmarschieren?
Die Meldung hielt man in der schönen Stadt Jever zunächst für einen
verfrühten Aprilscherz. Doch sie ist wahr: Die Russische Föderation erhebt
Anspruch auf das gesamte Jeverland im niedersächsischen Landkreis Friesland
und hat dem sozialdemokratischen Landrat Sven Ambrosy ein Ultimatum
gestellt: Wenn er das Jeverland nicht spätestens am 1. März 2023 an
Russland abtritt, werden die Waffen sprechen.
Der Kreml beruft sich dabei auf einen historischen Präzedenzfall: Ab 1797
unterstand das Jeverland aufgrund einer verwickelten Erbregelung als
sogenanntes Kunkellehen der russischen Zarin Katharina II., bis es 1807 von
napoleonischen Truppen besetzt wurde. Laut einem Gutachten des russischen
Justizministeriums hatten die Franzosen jedoch kein Recht, der Zarin das
Jeverland streitig zu machen, und daher sei es auch heute noch ein Teil des
russischen Staatsterritoriums. Davon zeuge nicht zuletzt die
charakeristische Zwiebelform des jeverschen Schlossturms.
„Auf den ersten Blick wirkt das natürlich etwas schroff“, hat der
renommierte Völkerrechtler Prof. Dr. Hans-Jürgen Stiehlke vom Hürther
Institut für europäische Partnerschaften und internationale Zusammenarbeit
e. V. in einem Interview mit dem Jeverschen Wochenblatt geäußert. „Und die
Androhung einer Kriegserklärung mag ein wenig überzogen wirken. Aber aus
völkerrechtlicher Sicht hat Moskau hier schlichtweg recht.“
So sehen es auch die Fachleute vom Stockholm International Peace Research
Institute (Sipri). In einem zweihundertseitigen, vom deutschen
Außenministerium angeforderten Gutachten kommen sie zu dem Schluss, dass
die Gebietsforderung der Russen legitim sei und von jedem rechtlich
denkenden Europäer unterstützt werden müsse. „Im Übrigen“, heißt es in…
Gutachten, „wäre die militärische Verteidigung des Jeverlandes angesichts
der desolaten Lage der Bundeswehr ohnehin ein Himmelfahrtskommando.“
## Wie das Bier, so das Jever
In der Stadt Jever stoßen solche Stellungnahmen vielfach auf Unverständnis.
„Disse Lüü hebbt woll nich mehr all Tassen in’n Spind“, sagt Fulcke
Bruhnken, die Ehrenvorsitzende des Jeverländischen Altertums- und
Heimatvereins, die ungeachtet ihrer 102 Jahre auch immer noch eine
gefürchtete Klootschießerin ist. „Dat loot wi uns nich bieten! In’t
Jeverland hett de Iwan nix to söken!“
Die im friesischen Kreistag mit zusammengerechnet drei Mandaten
ausgestatteten Vertreter der Parteien AfD und Die Linke sehen das lockerer:
In einem gemeinsamen Eckpunktepapier plädieren sie für einen
„Ambrosy-Putin-Pakt“ mit einem geheimen Zusatzprotokoll, das vorsieht, den
Russen anstelle des Jeverlandes die Stadt Wilhelmshaven und den Jadebusen
zu überlassen. Als Gegenleistung erwarten sie von Russland eine
Verlängerung der Pipeline Nord Stream 2 bis zum Yachthafen von Horumersiel.
Verkompliziert wird diese Angelegenheit jetzt auch noch dadurch, dass ein
gewisser Thorolf Otten aus Altfunnixsiel im Landkreis Wittmund behauptet,
der wahre Erbe des Jeverlandes zu sein. Er gibt an, in direkter Linie von
dem Chaukenhäuptling Radbod Otten-Skeiðarnef abzustammen, der dort im
ersten nachchristlichen Jahrhundert geherrscht habe und von den Friesen
widerrechtlich entmachtet und gevierteilt worden sei. Vom Landkreis
Friesland verlangt Otten Reparationen in Höhe von einer Milliarde Euro
sowie die sofortige Anerkennung aller seiner Häuptlingsrechte. In einer
vorab veröffentlichten Proklamation kündigt er an, welche Schritte er
plant: „Wir, Häuptling Thorolf, erklären alle Einwohner des Jeverlandes zu
unseren Untertanen. Anlässlich unserer Amtseinführung werden wir dem Gott
Fjerulf auf dem Schlossplatz zu Jever zweihundert Jungfrauen opfern, die
Stadt zehn Tage lang zur Plünderung freigeben und anschließend mal
weitersehen.“
Führende deutsche Rechtsexperten halten Ottens Bestrebungen für
unrealistisch, und auch der berüchtigte russische Propagandist Wladimir
Solojow will nichts davon wissen. Auf Flugblättern, die über Altfunnixsiel
abgeworfen worden sind, empfiehlt er dem Möchtegern-Häuptling, sich
rechtzeitig in Sicherheit zu bringen, wenn er nicht gehäutet werden wolle.
Den Jeveranern wiederum hat Solojow im russischen Staatsfernsehen geraten,
das Brauhaus zu Jever bereits vor dem Einmarsch der Russen auf die
Produktion von Wodka umzustellen: „Andernfalls, ihr Hunde, wird euch die
Faust unserer glorreichen Bodentruppen zerschmettern!“
## Friedlich derb: Genau mein Humor
Unter diesen Umständen nimmt es nicht wunder, dass viele Jeverländer sich
mit Umzugsgedanken tragen. Manche sind schon in die Landkreise Wittmund,
Ammerland und Wesermarsch ausgewandert, während andere politisches Asyl in
den Niederlanden oder sogar in Saudi-Arabien beantragt haben. Infolgedessen
spielt zurzeit der Immobilienmarkt im Jeverland verrückt: Zum
„Schnäppchenpreis“ angeboten werden seit Neuestem selbst solche Sahnestüc…
wie ein unterkellertes Hausboot im Hafen von Harlesiel und eine
Mehrzweckhalle in dem Wurtendorf Ziallerns (bei Bedarf Tischtennisplatte
vorhanden; Anfragen bitte an Familie Peemöller über das Dezernat 3 in der
jeverschen Kreisverwaltung).
Recht pfiffig hat der überregional bekannte Gastronom Abbo Zander aus
Hooksiel auf die beunruhigenden Nachrichten reagiert. Ende Februar will er
das von ihm aufgekaufte Traditionslokal „Haus der Getreuen“ an der
Schlachtstraße in Jever unter dem Namen „Zarenstübchen“ wiedereröffnen u…
dort mit Borschtsch und Bœuf Stroganoff „gewaltig Umsatz maken“, wie er
meint. „De Russkis schöölt mi ut de Hand freten!“
Anpassungsbereit scheinen auch einige Funktionäre der evangelischen Kirche
zu sein: In der Zeitschrift Chrismon haben sie unter Federführung der
pazifistischen Ex-Bischöfin Margot Käßmann in vorauseilendem Gehorsam jetzt
für den Einbau einer Stalinorgel in die jeversche Stadtkirche plädiert.
Zur Stunde kann noch niemand sagen, wie Wladimir Putin solche Zeichen des
Entgegenkommens bewerten wird und wo das alles enden soll. Letzte Meldung:
Nach Berichten von CNN sind im moorigen Raum Sillenstede bereits dreißig
Freiwillige beim Ausheben von Panzergräben ertrunken.
21 Jan 2023
## AUTOREN
Gerhard Henschel
## TAGS
Die Wahrheit
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Wladimir Putin
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