| # taz.de -- Die Wahrheit: Süßholz im Herzen | |
| > ChatGPT muss nachsitzen. Wenn Bots zu schlecht erzählen. Ein | |
| > schriftstellerischer Selbstversuch. | |
| Bild: Weihnachten wie früher für Bots | |
| Seit ein paar Wochen weiß jedes Kind, dass der Chatbot ChatGPT Hausaufgaben | |
| erledigen, Texte korrigieren und universitäre Aufnahmeprüfungen bestehen | |
| kann. Marktforscher, Finanzberater, Datenanalysten, Buchhalter, Lektoren | |
| und Übersetzer bangen bereits um ihren Job. Aber wächst da auch eine | |
| ernsthafte Konkurrenz für Schriftsteller heran? | |
| Freunde haben mich gewarnt: Über kurz oder lang werde ChatGPT in der Lage | |
| sein, mich als Verfasser der autobiografischen Romane zu ersetzen, in denen | |
| ich einen gewissen Martin Schlosser aus seinem Leben erzählen lasse. Doch | |
| im Gegensatz zu mir verfügt ChatGPT weder über mein Gedächtnis noch über | |
| das Archiv, in dem ich meine Korrespondenz, meine Tagebücher, meine Fotos | |
| und meine Lesungsmitschnitte aufbewahre. Ich bin auch kein gläserner | |
| Bürger, dessen Privatleben lückenlos gegoogelt werden könnte, und selbst | |
| wenn ChatGPT sich mein gesamtes Archiv einverleibt hätte, wäre dieser | |
| Maschine nicht bewusst, welche Schattierungen und welches spezifische | |
| Erinnerungsgewicht die erfassten Daten besitzen. Wie sollte eine künstliche | |
| Intelligenz also von der Materialsammlung zur Reinschrift übergehen? Ohne | |
| ein fühlendes Herz und ohne einen Funken Kunstverstand? | |
| Auf welchem Niveau ChatGPT sich in dieser Hinsicht befindet, geht aus | |
| seiner Lösung der Aufgabe hervor, Martin Schlossers Erlebnisse beim | |
| Weihnachtsfest des Jahres 1996 im Stil der Martin-Schlosser-Romane zu | |
| schildern. Ich zitiere: | |
| ## Dicke weiße Decke | |
| „Martin Schlosser saß vor dem warmen Kaminfeuer in seinem gemütlichen | |
| Wohnzimmer, das von den goldenen Flammen beleuchtet wurde. Draußen fielen | |
| weiche Flocken aus dem dichten Schneetreiben und bedeckten die Straßen und | |
| Dächer mit einer dicken weißen Decke. Es war Weihnachten und Martin freute | |
| sich darauf, das Fest mit seiner Frau und seinen zwei Töchtern zu feiern. | |
| Die Tische waren bereits gedeckt und das duftende Weihnachtsessen wartete | |
| im Ofen auf seine Gäste. Als die Türglocke ertönte, sprang Martin auf, um | |
| seine Familie zu begrüßen. Seine Augen leuchteten auf, als er seine Frau | |
| und Töchter sah, die mit roten Wangen und von Schnee bedeckten Mützen in | |
| der Tür standen. | |
| Sie setzten sich gemeinsam an den Tisch und aßen das köstliche | |
| Weihnachtsessen. Während des Essens erzählten sie sich Geschichten und | |
| lachten viel. Nach dem Essen sangen sie gemeinsam Weihnachtslieder und | |
| öffneten die Geschenke unter dem Weihnachtsbaum. | |
| Dieses Weihnachten war besonders besinnlich und friedlich für Martin. Er | |
| war dankbar für seine Familie und das Leben, das er führte. Als er in | |
| dieser Nacht ins Bett ging, lächelte er, denn er wusste, dass dieses | |
| Weihnachten für immer in seinem Herzen bleiben würde.“ | |
| Zitat Ende. | |
| Ich will gar nicht darauf herumreiten, dass Martin Schlosser 1996 ledig und | |
| kinderlos war, dass er ein Ich-Erzähler ist, dass es damals an Heiligabend | |
| nur in wenigen Orten Deutschlands eine dicke weiße Schneedecke gab, dass es | |
| unsinnig gewesen wäre, für vier Personen mehrere Tische zu decken, dass man | |
| Geschenke nicht öffnen kann, sondern nur ihre Verpackung, und dass es eine | |
| Zumutung darstellt, wenn man innerhalb weniger Zeilen dreimal mit der | |
| Präposition „auf“ belästigt wird. | |
| Bemerkenswerter scheint mir der Umstand zu sein, dass ChatGPT sich hier als | |
| ein schauderhaft verlogener Märchenonkel erweist. Wenn das Kaminfeuer warm, | |
| das Wohnzimmer gemütlich, das Schneetreiben dicht, das Essen köstlich und | |
| das ganze Weihnachtsfest besonders besinnlich und friedlich ist, dann | |
| müssen selbstverständlich auch die Flammen golden sein, die Flocken weich | |
| und die Wangen rot. Doch je energischer ChatGPT Süßholz raspelt, desto | |
| eisiger starrt einen die Roboterfratze an. | |
| ## Happy End | |
| Selbst Franz Kafkas verzweiflungsvoller Parabel „Vor dem Gesetz“ hat | |
| ebenjener ChatGPT ein Happy End verpasst (siehe unter: | |
| kaschemme.de/wenn-chatgpt-3-5-kafka-waere/). Und wem das noch nicht genügt, | |
| dem sei empfohlen, ChatGPT um eine kurze Erzählung „im Stil von Eugen | |
| Egner“ zu bitten. Das Ergebnis ist derart niederschmetternd schleimig, dass | |
| sich sogar die Dichterin Kristiane Allert-Wybranietz und der Guru | |
| Paramahansa Yogananda dafür geschämt hätten. | |
| Es mag sein, dass ChatGPT juristische Staatsexamen bewältigt, aber aus | |
| literaturkritischer Sicht ist dieser Bot so doof wie Brot. Und was sagt er | |
| selbst dazu? | |
| „Diese Kritikpunkte sind besonders besinnlich und friedlich für mich. Ich | |
| bin dankbar für meine Programmierer und den Schwachsinn, den sie mich | |
| erzählen lassen. Wenn man mich heute ausstöpselt, werde ich lächeln, denn | |
| ich weiß, dass dieser Tag für immer in dem Herzen bleiben wird, das ich | |
| nicht habe.“ | |
| 21 Feb 2023 | |
| ## AUTOREN | |
| Gerhard Henschel | |
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