# taz.de -- Die Wahrheit: „Mir kommt’s nur auf die Kohle an“ | |
> Das Wahrheit-Interview: Deutschlands erster „Bahnschreiber“ Thomas Gsella | |
> über sein lukratives Amt, für das er quer durchs Land reist. | |
Bild: Es ist alles angerichtet im luxuriösen ICE-Sonderabteil für den arbeits… | |
taz: Herzlichen Glückwunsch, Herr Gsella! Sie werden ab dem 1. Juli 2023 | |
ein Vierteljahr lang in einem ICE-Sonderabteil als „Bahnschreiber“ kreuz | |
und quer durch die Lande reisen und können von den Passagieren unterwegs | |
beim Dichten betrachtet werden. Freuen Sie sich darauf? | |
Thomas Gsella: Ja und nein. Ich dichte grundsätzlich lieber im stillen | |
Kämmerlein, aber meine Tätigkeit als Bahnschreiber wird mit 100.000 Euro | |
vergütet. Dafür kann man schhon ein kleines Opfer bringen. | |
Wie darf man sich das denn vorstellen? Sie sitzen also in Ihrem Abteil und | |
tippen irgendwas in Ihr Notebook? | |
Genau. Doch die Tür ist natürlich von innen verriegelt, damit ich nicht | |
belästigt werden kann. | |
Und wie werden Sie verpflegt? | |
Da habe ich die freie Auswahl zwischen vegetarischer Gelbe-Bete-Suppe über | |
Flammkuchen Elsässer Art oder Hähnchenbratwurst mit Kartoffelwürfeln in | |
Rosmarinbutter bis hin zu Müsliriegeln. Plus Grauburgunder, versteht sich. | |
Und dann dichten Sie da so vor sich hin? | |
Das ist der Plan. | |
Gab es viele Kandidaten, gegen die Sie sich durchsetzen mussten? | |
Eigentlich nicht. Das ist mehr so unter der Hand gelaufen. Der Bahn-Chef | |
Richard Lutz ist der Vetter einer Schwägerin meiner Halbschwester Gabriele | |
Gsella-Mertens, und über diese Schiene ist das Amt mir zugeschustert | |
worden. | |
Am Ende müssen Sie aber doch sicherlich irgendwas abliefern … | |
Den Statuten zufolge habe ich die freie Wahl zwischen einem Vierzeiler, | |
einem Roman und einem Sonettenkranz. Wahrscheinlich werde ich einen | |
Vierzeiler schreiben, weil mir Romane und Sonettenkränze nicht so liegen. | |
Das neugeschaffene Amt des Bahnschreibers ist deutlich höher dotiert als | |
der Büchner-Preis. Finden Sie nicht, dass Sie dafür ein bisschen mehr | |
produzieren sollten als einen Vierzeiler? | |
Wenn Sie eine Ahnung davon hätten, wie schwer es ist, einen soliden | |
Vierzeiler zu verfassen, würden Sie bestimmt nicht so vorwitzig fragen. Und | |
Sie dürfen nicht vergessen, dass ich als Bahnschreiber unter ständiger | |
Beobachtung stehen werde, was die Sache nicht leichter macht. Das ist | |
Stress hoch fünf. | |
Haben Sie überhaupt schon mal richtig gearbeitet? | |
Sie meinen jetzt körperlich? | |
Ja. | |
Als Schüler hab ich mal einen Nachmittag lang im Pfandflaschenlager von | |
Edeka ausgeholfen. | |
Und wie war’s? | |
Ziemlich schlauchig. Ich hab das auch nur gemacht, um an einem | |
Preisausschreiben des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt teilnehmen zu | |
können. Da sollte man den inneren Monolog eines Hilfsarbeiters einreichen, | |
der endlich beschließt, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Für den | |
Siegertext waren 50 Mark ausgeschrieben. Die hätte ich echt gut gebrauchen | |
können, für ein neues Mofaritzel, aber ich hab den Einsendeschluss | |
verschwitzt. | |
War das Ihre einzige Erfahrung mit körperlicher Arbeit? | |
Weit gefehlt. Im Essener Nobelviertel Bredeney habe ich einige Jahre lang | |
als Callboy angeschafft, bis es mir zu eintönig geworden ist, tagaus, | |
tagein Gänseleberpastete zu fressen und die ausgefallenen Wünsche grüner | |
Millionärswitwen zu erfüllen. Eine Zeitl ang ist das ganz unterhaltsam, | |
aber irgendwann wird’s fad. | |
Heute kennt man Sie vor allem als erfolgreichen Dichter. Sie besitzen eine | |
Villa in Aschaffenburg, eine Etagenwohnung in Essen, eine Tretbootflotte | |
auf dem Dümmer und die Autogrammadressen der Supermodels Bella und Gigi | |
Hadid. Außerdem bringt Chanel in diesem Sommer Ihre Duftkollektion „Sous | |
les bras de Gsella“ auf den Markt, und vor zwei Wochen ist einer Ihrer | |
Strumpfhalter bei Sotheby’s für 27.500 Pfund Sterling unter den Hammer | |
gekommen. Haben Sie es da noch nötig, sich als Bahnschreiber zu verdingen? | |
Wenn Sie wüssten! Beim Essener Amtsgericht sind mehr als dreihundert | |
Vaterschaftsklagen gegen mich anhängig. Ich bin auf jeden Cent angewiesen. | |
Die Asche von der Deutschen Bahn AG ist nur ein Tropfen auf den heißen | |
Stein. | |
Das klingt allerdings besorgniserregend. Sollen wir mal den Hut für Sie | |
herumgehen lassen? | |
Es würde mir schon genügen, wenn Sie so freundlich wären, mich für den | |
Literaturnobelpreis ins Gespräch zu bringen. Als Gegenleistung könnte ich | |
Ihnen eine Freifahrt auf einem meiner Tretboote anbieten. | |
Den Literaturnobelpreis haben aber doch nur lauter Langweiler erhalten, | |
wenn man einmal von Knut Hamsun und Bob Dylan absieht. | |
Stimmt. Aber das stört mich nicht. Mir kommt’s nur auf die Kohle an. Ich | |
würde den Preis auch nicht persönlich in Empfang nehmen, sondern Patti | |
Smith nach Stockholm schicken, so wie es Dylan gemacht hat. | |
Wenn man Ihnen so zuhört, ist man geneigt, einem Kritiker beizupflichten, | |
der letztes Jahr in der New York Times geschrieben hat: „Thomas Gsellas | |
dichterisches Talent wird nur von seinem Zynismus und seiner schamlosen | |
Geldgier übertroffen.“ | |
Das ist eine falsche Übersetzung, und das hat auch nicht in der New York | |
Times gestanden, sondern im Main-Echo, und der Kritiker, den Sie meinen, | |
hat in Wirklichkeit geschrieben: „Vor Thomas Gsellas poetischem Genius | |
würden sich selbst Goethe und Hölderlin sowie Busch und Tucholsky und nicht | |
zuletzt Brecht und Benn demütig verneigen, wobei nicht unerwähnt bleiben | |
sollte, dass Gsella sie alle auch charakterlich weit überragt.“ | |
Vielen Dank für diese Richtigstellung, Herr Gsella. Und gute Reise! | |
24 May 2023 | |
## AUTOREN | |
Gerhard Henschel | |
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