# taz.de -- Science Fiction aus Lützerath: Zermalmt, zermahlen und zerkaut | |
> Sehnsucht nach Utopie nach der Räumung von Lützerath? Das hat unsere | |
> Autorin heute nicht im Angebot. Sie versucht literarisch, Trauer und Wut | |
> zuzulassen. | |
Bild: Abriss des Dorfes Lützerath nach der Räumung am 18. Januar | |
Die Sonne steigt im blassgrauen Dunst über den Horizont. Ein paar | |
Lichtstrahlen verfangen sich im morgendlichen Tau. Es ist das einzige | |
Leuchten in dieser Einöde. Abgehackte Schatten springen über Furchen und | |
Gräben in der aufgeworfenen Erde. | |
Du kannst die regelmäßigen Formen erkennen, die dem Boden aufgedrückt | |
wurden; Spuren schwerer Kettenfahrzeuge. An einer Stelle ragen die Spitzen | |
einer abgebrochenen Holzfassade aus dem Morast. Zusammengenagelte Bretter | |
mit Stickern und Schriftzügen. [1][Parolen oder Liebeserklärungen]. Daneben | |
Glassplitter wie zerbrochene Träume. Sie blitzen kurz auf, wenn du den | |
Blick schweifen lässt, knirschen unter deinen Füßen, als du vorbeigehst. | |
Du musst vorsichtig sein, denn der Boden ist trügerisch. Überall könnten | |
sich Löcher auftun oder Nägel deine Sohlen durchstoßen. Im Schlamm weitere | |
Bruchstücke vergangener Zeiten wie Treibgut: ein Topf so groß wie eine | |
Kinderbadewanne, ein verbogener Klappstuhl, ein selbstgenähter Teppich, | |
schon fast wieder eins geworden mit dem Untergrund. Das Gerippe eines | |
Regenschirms, von dem nur noch wenige Fetzen gelber Stoff herabhängen. Und | |
je weiter du gehst, desto mehr erkennst du, dass der Schlick nur eine dünne | |
Schicht ist, die über die Dinge gewalzt wurde. | |
Du bewegst dich auf einem reichhaltigen Teig, einer Masse wie gemacht für | |
saftiges Gebäck. Doch statt Mandeln und Schokoladenstückchen reichern hier | |
die Überreste der Vergangenheit den Boden an. Dinge menschlichen Lebens, | |
die diesen Ort seit Jahrhunderten zu einer Heimat gemacht haben und die vor | |
der Zeit der Erde zurückgegeben wurden. | |
## Erinnerungen werden untergehoben | |
Die Natur altert nicht. Sie sieht auch in tausend Jahren noch genauso | |
frisch aus wie heute. Doch menschengemachte Orte haben eine Geschichte, | |
weil es Menschen gibt, die sie mit Leben füllen und durch Erinnerungen | |
zusammenhalten. | |
Die Erinnerungen wurden von Baggern und Schaufeln untergehoben, wurden | |
knirschend und klirrend und knisternd zermalmt und zermahlen, zerkaut, | |
wieder ausgespien und umgewälzt. Zu den alten Schätzen unter der Erde | |
wurden neue, neueste gemischt. Nicht achtlos weggeworfen, sondern verloren | |
im Kampf. In dieser Masse finden sich jetzt auch Absperrbänder, | |
Klebestreifen, gelbe Holzkreuze und Barrikaden, Kleidung in allen Größen, | |
Stirnlampen, Schals und Handschuhe voller Blut und Tränen. | |
Wenn du lauschst, kannst du sie hören, die Stimmen, die aus der | |
Vergangenheit sprechen: Dies war unsere Heimat, dies war unser Land, | |
[2][dies war unsere Zukunft]. Und ihnen antwortet das Grollen der | |
Maschinen, das Schnaufen der Bagger, die sich mit Titanzähnen in die Erde | |
verbeißen und ihr Innerstes nach außen kehren. In ihrem Gefolge die | |
Staatsgewalt, als gepanzerte Infanterie ohne Gesicht und Namen. Du hörst | |
ihre blechernen Stimmen durch Megafone dröhnen, hörst das Zischen des | |
Pfeffersprays, das dumpfe Pochen von Schlagstöcken auf gekrümmten Körpern, | |
den Aufprall verspiegelter Visiere auf brechende Nasen. Du hörst Schreie, | |
Verzweiflung, Wut. Du hörst, wie Menschen in Autos gezerrt werden, die | |
Sirenen, die Befehle, deren Echo endlich auch von den Maschinen verschluckt | |
wird. | |
[3][Das Land wird gefressen]. Der Boden wird verbrannt. Alles stürzt an der | |
Abbruchkante ins Nichts. Und doch ist es kein Albtraum, keine Dystopie aus | |
Hollywood. Das hier ist – das hier war Lützerath. | |
22 Jan 2023 | |
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## AUTOREN | |
Theresa Hannig | |
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