| # taz.de -- Film „Babylon“ über frühes Hollywood: Tonfilm essen Kinoseele… | |
| > Mit dem Film „Babylon – Rausch der Ekstase“ beschwört Damien Chazelle … | |
| > letzten Tage der Stummfilmära in Hollywood. Er zeigt sie als endlose | |
| > Party. | |
| Bild: Bei der Arbeit: Elinor St. John (Jean Smart) in „Babylon“ | |
| Das Kino stirbt. Mal wieder. Mit schöner Regelmäßigkeit wird das Ende der | |
| 7. Kunst beschworen. Erst war es das Fernsehen, dann die VHS-Kassette, | |
| später DVD und Blu-Ray. Aktuell ist es das Streaming, das das Kino | |
| endgültig zerstören soll. Nimmt man die durch die [1][Coronapandemie noch | |
| frappierender gewordenen Probleme hinzu, kann man leicht zum Schluss | |
| kommen, dass es dem Kino], zumindest dem, das eine Spur anspruchsvoller und | |
| ambitionierter ist als Marvel und DC, lange nicht so schlecht ging wie im | |
| Moment. | |
| Vielleicht ist es diese Stimmung, die momentan viele Regisseure zu | |
| nostalgischen Blicken auf die große Zeit des Kinos verleitet und zu | |
| Beschwörungen der Magie von Filmkunst, zum Hochhalten des Kinos als | |
| besonderem Ort, an dem Dinge passieren, die auf dem eigenen Sofa, bei | |
| Netflix oder Amazon Prime nicht passieren können. | |
| Steven Spielberg hat mit „The Fabelmans“ einen Film darüber gedreht, wie er | |
| das Kino als Flucht vor der Wirklichkeit entdeckte. In „Empire of Light“ | |
| beschwört Sam Mendes ein Kino, besser: ein Lichtspielhaus als Ort, an dem | |
| eine verbotene Liebe wachsen kann. Doch am weitesten geht Damien Chazelle | |
| in seinem überbordenden und exzessiven, aber auch naiven und nostalgischen | |
| „Babylon – Rausch der Ekstase.“ | |
| Der Titel des dreistündigen Epos verweist dabei weniger auf das antike | |
| Babylon und seine vielbeschworenen hängenden Gärten als auf Kenneth Angers | |
| Buch „Hollywood Babylon“, eine Sammlung von mehr oder eher weniger wahren | |
| Geschichten über das ausschweifende Leben der Stars der Stummfilmära. Mit | |
| einer orgiastischen Party beginnt dann auch „Babylon“, einem exzessiven | |
| Fest voller Drogen, Alkohol, Sex, Elefanten, Zwergen und was sonst | |
| dazugehört. | |
| Hier treffen die drei Hauptfiguren zum ersten Mal aufeinander: Der smarte | |
| Jack Conrad (Brad Pitt), einer der großen Stars des Stummfilms, die laszive | |
| Nellie LaRoy (Margot Robbie), die unbedingt ein Star werden will, und der | |
| mexikanische Migrant Manny Torres (Diego Calva), eine Art gutes Gewissen | |
| des Films. | |
| ## Kein Paradies währt ewig | |
| In losen Episoden beschreibt Chazelle nun das Leben des Trios in der späten | |
| Stummfilmära, eine Phase des Kinos, die – zumindest in Chazelles Vision – | |
| von absoluter künstlerischer und sexueller Freiheit geprägt war. Da jedoch | |
| kein Paradies ewig währt, muss auch dieses enden, und zwar in Gestalt des | |
| Tonfilms. Plötzlich muss Ruhe auf dem Set herrschen, auf einmal reicht es | |
| nicht mehr, ein expressives Gesicht zu haben, auch eine angenehme Stimme | |
| ist nun nötig. | |
| Nicht von ungefähr hört sich diese Geschichte sehr bekannt an, und Chazelle | |
| macht auch keinen Hehl daraus, dass er sich deutlich an einen der großen | |
| Hollywood-Klassiker anlehnt: „Singin’ in the Rain / Du sollst mein | |
| Glücksstern sein“ diente als Blaupause für „Babylon“, fast könnte man | |
| Chazelles Film ein Remake des Musicals nennen, nur in Form einer Tragödie: | |
| Jack Conrads Stern sinkt, Nellies Exzesse fordern ihren Tribut, selbst | |
| Manny lässt sich zum Spielball des Systems machen und nimmt bald Reißaus. | |
| Den Untergang einer Ära will Chazelle beschwören, stellt das | |
| Stummfilmsystem gegen die Anfänge des Tonfilms, Freiheit gegen Zwang. Doch | |
| mit dieser Dichotomie macht er es sich zu einfach, unterschlägt den | |
| Rassismus und Sexismus, der nicht nur in Hollywood immer mitschwang, | |
| idealisiert eine Welt, in der zwar großes Kino entstand, aber zu einem | |
| hohen Preis. | |
| ## Das Kino mit dem Blick zurück retten? | |
| Zum Ende von „Babylon“ führt eine Montagesequenz ins Kino der Gegenwart, | |
| evoziert Chazelle auf fraglos berührende Weise die Magie des Kinos als Ort, | |
| an dem Menschen zusammenkommen und gemeinsam atemberaubende Bilder sehen | |
| und erleben. Chazelle liebt das Kino, glaubt an seine Kunst, hofft | |
| vielleicht sogar darauf, das Kino mit einem Film wie „Babylon“ retten zu | |
| können, aber sein Blick scheint weniger in die Zukunft dieser Kunstform | |
| gerichtet zu sein als in ihre Vergangenheit. | |
| In seinem [2][größten Erfolg, „La La Land“], gibt es eine Szene, in der d… | |
| von Ryan Gosling gespielte Jazzmusiker gefragt wird, wie er denn gedenkt, | |
| den Jazz zu retten: „Wie kann jemand ein Revolutionär sein, der so | |
| traditionell denkt?“ | |
| Ähnliches ließe sich über Chazelle selbst sagen, der nun schon seinen | |
| dritten Film in Folge gedreht hat, der entweder wie „La La Land“ in einer | |
| hyperstiliserten Fantasiewelt spielt oder wie [3][„First Man – Aufbruch zum | |
| Mond“] und nun „Babylon“ gleich in der Vergangenheit. Und vor allem in | |
| Phasen der Vergangenheit, in denen Dinge geschahen, die in der Erinnerung | |
| idealisiert und verklärt wurden. Im einen Fall die Eroberung des Mondes, im | |
| anderen eine Ära Hollywoods, die längst Legende ist. | |
| Je mehr man diese Phasen der Geschichte verehrt, je besser man sich in | |
| ihnen und mit ihren Anekdoten auskennt, desto mitreißender wirken die | |
| Filme, die Chazelle über sie gedreht hat. Ohne Nostalgie würden sie | |
| allerdings kaum funktionieren, was zur vielleicht entscheidenden Frage | |
| führt: Kann das Kino wirklich gerettet werden, indem seine Vergangenheit | |
| beschworen wird? Das wird nur die Zukunft zeigen. | |
| 19 Jan 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Die-Zukunft-des-Kinos-nach-der-Pandemie/!5752742 | |
| [2] /Musicalfilm-La-La-Land/!5372637 | |
| [3] /Lidokino-1--Politische-Filme-in-Venedig/!5528292 | |
| ## AUTOREN | |
| Michael Meyns | |
| ## TAGS | |
| Spielfilm | |
| Hollywood | |
| Stummfilm | |
| Kino | |
| Nostalgie | |
| Rausch | |
| Film | |
| Schwerpunkt Berlinale | |
| Literatur | |
| Schwerpunkt Filmfestspiele Venedig | |
| Emma Stone | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Wissenschaftlerin über Rauschzustände: „Ekstase ist oft rituell unterfütte… | |
| Racha Kirakosian hat ein Buch über die Ekstase geschrieben. Ein Gespräch | |
| über das Gefühl des Schwebens bei Konzerten, Mathematik und | |
| Baseballspielen. | |
| Kenneth Anger ist gestorben: Der ungeheuerlichste Filmemacher | |
| Kenneth Anger lieferte Avantgarde in jeder Hinsicht: Gay Cinema, | |
| Underground, Okkultismus, Mediensatire. Nun ist er im Alter von 96 Jahren | |
| gestorben. | |
| Begleitprogramm zur Berlinale: Die Welt aus der Sicht eines Pilzes | |
| Die Woche der Kritik verbindet zum achten Mal Kino und Diskurs in Berlin. | |
| Im Programm sind erfreulich viele Genrefilme und historische Entdeckungen. | |
| Marilyn-Monroe-Biopic „Blond“ auf Netflix: Ihr Kampf mit den Monstern | |
| Auf sich selbst aufzupassen, das gelingt Marilyn in Andrew Dominiks Film | |
| „Blond“ nicht. Er erzählt von den vielen Wunschbildern der Schauspielerin. | |
| Lidokino 1 – Politische Filme in Venedig: Kino gegen Rechtspopulisten | |
| Lidokino 1: Die 75. Filmfestspiele von Venedig sind in diesem Jahr | |
| bemerkenswert „politisch“ aufgestellt. Ryan Gosling ist auch da | |
| Musicalfilm „La La Land“: Im Look einer Langnesewerbung | |
| „La La Land“ triumphierte bei den Golden Globes, nun startet der Film in | |
| Deutschland. Die Optik ist schön, die Protagonisten können bloß nicht | |
| tanzen. |