# taz.de -- Aktivistin über Klimakrise und Widerstand: „Der Wald war schöne… | |
> Vandana Shiva ist eine der berühmtesten Umweltaktivistinnen. Ein Gespräch | |
> über Gandhi als Vorbild, grüne Gentechnik und Angriffe auf ihre Person. | |
Bild: Vandana Shiva Ende vergangenen Jahres in Berlin | |
Vandana Shiva sitzt im Kino Babylon in Berlin, hier feiert der | |
Dokumentarfilm „Vandana Shiva – Ein Leben für die Erde“ seine | |
Deutschlandpremiere. Die 70-Jährige trägt einen traditionellen dunkelroten | |
Sari, ein großes, rotes Bindi säumt ihre Stirn. Shiva ist etwas wackelig | |
auf den Beinen, als sie sich für das Gespräch auf einen der Kinosessel | |
fallen lässt. | |
wochentaz: Frau Shiva, Sie sind am Fuße des Himalaja mitten im Wald | |
aufgewachsen. Ihr Vater war Waldschützer. Wie spürt man den Klimawandel | |
dort heute? | |
Vandana Shiva: Der Ort, an dem ich geboren wurde, ist heute ein | |
Militärstandpunkt. Deshalb sind die Wälder dort gut geschützt. Aber die | |
Himalaja-Region ist sehr gefährdet. 2013 hatten wir dort eine schlimme | |
Katastrophe. Damals schmolzen Gletscher, das verursachte Starkregen. | |
Innerhalb von zwei Tagen regnete es mehr als in einem ganzen Monat. Es kam | |
zu Erdrutschen, ganze Brücken, Straßen, Dörfer und Schulen wurden | |
weggeschwemmt. Im Jahr 2021 kam es wieder zu einer solchen Katastrophe. Das | |
Dorf der Chipko-Bewegung würde zerstört | |
Bei der Chipko-Bewegung umarmten indigene Dorfbewohnerinnen in den | |
siebziger Jahren Bäume, um diese vor einer Abholzung für eine Apfelplantage | |
zu schützen. Sie waren damals auch daran beteiligt. | |
Chipko machte mich zur ökologischen Aktivistin. Die Frauen sagten damals: | |
Ihr könnt die Bäume fällen, aber erst müsst ihr uns töten. Die Aktion ging | |
sehr lange, aber sie war erfolgreich. Wir stoppten die Plantage. Es war | |
eine direkte politische Aktion, ganz [1][im Sinne Mahatma Gandhis]. | |
Gandhi steht für einen gewaltlosen Widerstand. Damit erkämpfte er 1947 die | |
Unabhängigkeit Indiens. | |
Gandhi prägte mich sehr. Auch in meiner Arbeit gegen Monsanto. Ich erinnere | |
mich an eine Konferenz zu Biotechnologie im Jahr 1987. Damals habe ich | |
angefangen, zu genetisch verändertem Saatgut zu forschen. Die chemischen | |
Industriekonzerne sagten damals, die Zukunft der Landwirtschaft liege in | |
der Patentierung von Saatgut. Aber um das Saatgut überhaupt patentieren zu | |
können, muss man es erst genetisch verändern. Die Unternehmen versuchten | |
also Saatgut neu zu erfinden. Damals begannen Unternehmen wie Monsanto, die | |
Nahrungsmittelproduktion zu kontrollieren. | |
Was hat das mit Gandhi zu tun? | |
Das Ganze erinnerte mich an die britische Kolonialzeit. Die Briten | |
versuchten damals mit den sogenannten Salzgesetzen den Inder:innen zu | |
verbieten, eigenes Salz herzustellen. Sie wollten ein Monopol aufbauen. Aus | |
Protest ging Gandhi mit Hunderten Menschen zum Strand, streifte seine Hand | |
durch das Salzwasser und sagte: Die Natur gibt uns Salz umsonst, wir | |
brauchen es für unser Überleben. Wir werden es weiter herstellen und eure | |
Gesetze ignorieren. Das war der Salzmarsch. | |
Einige Jahrzehnte später sammelten Sie Saatgut, das große Unternehmen wie | |
Monsanto monetarisieren wollten. | |
Genau. Ich begann, wieder im Sinne Gandhis, die Saatgut-Satyagraha gegen | |
die Patentierung und Monopolisierung von Saatgut. Satyagraha bedeutet so | |
viel wie: Kraft der Wahrheit. Es geht darum, an die Vernunft des | |
politischen Gegners zu appellieren, sie ist die Basis gewaltfreier | |
Kooperation. Mein Gedanke war: Die Natur hat uns Samen gegeben, um Nahrung | |
herzustellen. Deshalb werden wir keinem Gesetz gehorchen, das es uns | |
verbietet, dieses Saatgut selbst zu sammeln oder miteinander auszutauschen. | |
Neben dem gewaltfreien Widerstand sagte Gandhi immer, man dürfe seinen | |
Feind nie hassen. | |
Er hat immer gesagt: Du kannst die Tat verachten, aber niemals die Person | |
hassen. Du kannst die gewalttätige Aktion hassen, aber du sollst dein | |
Gegenüber respektvoll behandeln. Er hat die Brit:innen auch nicht | |
gehasst. Aber er hat nicht akzeptiert, was sie in Indien getan haben. | |
Hassen Sie Monsanto? | |
Ich habe immer gesagt, bringt mir jemanden von Monsanto und ich werde ihn | |
umarmen. Einmal kam jemand auf meinen Bauernhof und hat mich gefragt, warum | |
ich ihn so sehr hasse. Ich wusste nicht, wer er ist, und fragte, warum ich | |
ihn hassen sollte. Er sagte, er sei der Chef von Monsanto. Und ich | |
erwiderte: Nun ja, ich hasse die Arbeit, die ihr macht, hasse euer | |
Glyphosat, hasse eure Lügen und den Fakt, dass ihr Hunderttausende indische | |
Bauern in den Suizid getrieben habt. Aber ich werde dich trotzdem wie einen | |
Menschen behandeln. | |
Sie spielen auf den Skandal rund um die gentechnisch veränderte | |
Bt-Baumwolle an. | |
Seit 1995 gab es 400.000 Suizide von indischen Bauern. Davon waren 85 | |
Prozent im Baumwollgebiet, wo heute wiederum 95 Prozent Bt-Baumwollsamen | |
von Monsanto angebaut werden. Durch die hohen Kosten des Saatguts und die | |
Monopolstellung von Monsanto verschuldeten sich die Bauern und begangen | |
Suizid. Da gibt es einen direkten Zusammenhang. (Der direkte Zusammenhang | |
ist durchaus umstritten, es gibt Wissenschaftler, [2][die sagen, die | |
Suizidrate habe sich seit Einführung der Bt-Baumwolle nicht erhöht, Anm. d. | |
Red.]) | |
Sie werden immer wieder in der Öffentlichkeit angegriffen. Im „New Yorker“ | |
wurden Sie als Pseudowissenschaftlerin diffamiert … | |
(sie unterbricht) Ich bin Wissenschaftlerin, ich habe einen Master in | |
Teilchenphysik und einen Doktor in Quantentheorie. | |
Trotzdem wird Ihnen immer wieder vorgeworfen, dass Sie sich | |
wissenschaftliche Fakten für Ihre Agenda zurechtlegen. | |
All die angeblichen Journalisten, die das behaupten, haben keinerlei | |
Wissenschaftshintergrund. Sie wurden dafür bezahlt, mich zu attackieren. | |
Ich habe mich die vergangenen vierzig Jahre meines Lebens mit Agrarökologie | |
beschäftigt, mit Biodiversität. Sie können mir mein Wissen nicht nehmen. | |
All meine Beiträge sind von meinem Streben nach Wahrheit geprägt. | |
Was macht es mit Ihnen zu sehen, wie Menschen die Erde zerstören? | |
Ich habe weiterhin Hoffnung, weil ich mein ganzes Selbst der Erde widme. | |
Sie ist mächtig in ihrer eigenen Zerstörung, aber auch in ihrer | |
regenerativen Kraft. Ich bewahre Saatgut, ich baue natürliche Erde an. Und | |
ich glaube, darin liegt die Lösung gegen den Klimawandel: in dem Anbau von | |
natürlicher Erde, was wiederum mehr Biodiversität schafft. So arbeitet man | |
im Einklang mit der Natur. | |
Mittlerweile haben Sie einen Bauernhof mit einer Saatgutbank und | |
unterstützen Bauern in ganz Indien, eine ökologische Landwirtschaft zu | |
betreiben. Inwieweit hat Sie Ihr Aufwachsen im Wald geprägt? | |
Ich glaube, ich hätte nie so eine tiefe Liebe und ein tiefes Verständnis | |
für die Natur entwickeln können, wenn ich dort nicht aufgewachsen wäre. Und | |
meine Eltern waren tolle Menschen. Als ich eine junge Frau war, gingen | |
meine Freunde in Nachtklubs. Ich erinnere mich, wie mein Vater sagte: Du | |
willst in die Disco? Ich zeig euch eine Disco. Er setzte meinen Bruder und | |
mich ins Auto und fuhr uns den ganzen Weg nach Delhi in diesen kleinen, | |
schmuddeligen Keller. Wir waren dort genau fünf Minuten. Und wir dachten: | |
[3][Wie können Leute in so einem Raum mit lauter Musik und hässlichen | |
Lichtern so viel Zeit verbringen? Der Wald war so viel schöner]. | |
Mittlerweile leben acht Milliarden Menschen auf der Welt. Können wir | |
überhaupt alle Menschen durch eine traditionelle Landwirtschaft versorgen? | |
Es geht darum, unsere Sicht auf Nahrung zu verändern. Diese anthropozäne | |
Idee, dass nur uns Menschen Nahrung auf der Erde zusteht, ist das | |
Grundproblem. Andere Lebewesen sind genauso von dieser Erde abhängig wie | |
wir. 50 Prozent der Treibhausgasemissionen kommen aus der industriellen | |
Landwirtschaft (andere Quellen [4][gehen von einem wesentlich geringeren | |
Anteil aus], d. Red.). In der Biodiversität liegt die Lösung für den | |
Klimawandel. | |
Die Klimakatastrophe kann nur aufgehalten werden, wenn alle Länder sich von | |
fossilen Energien verabschieden. Wie kann das gelingen? | |
Ich glaube, zwei Dinge sind mit der Klimabewegung schiefgelaufen. Erst | |
einmal reduziert sie ihre Gedanken, Vorstellung und Lösung auf Zahlen. Das | |
ist eine Quantifizierung der Welt, ganz im Sinne von Descartes. Die Natur | |
wird immer nur gemessen. Aber die Natur nur auf Zahlen, Systeme oder | |
Prozesse zu reduzieren, lässt uns ihre eigentlichen, lebendigen Strukturen | |
vergessen. Wir müssen sie als ganzheitliches System begreifen. Und zweitens | |
liegt das Problem der Klimabewegung darin, dass sie versucht, über Angst zu | |
mobilisieren. | |
Wie sollte die Klimabewegung sonst die Menschen wachrütteln, wenn nicht | |
über die Angst vor einer Klimakatastrophe? | |
Es geht darum, sich ein anderes System vorzustellen. Wenn wir die | |
Globalisierung, die Konsumkultur und all die Bequemlichkeit einer Welt | |
akzeptieren, die auf fossilen Energiestrukturen aufgebaut ist, dann wird es | |
sich so anfühlen, als würde Veränderung Verzicht bedeuten. Aber wenn wir | |
beginnen zu realisieren, dass eine Welt ohne fossile Energien möglich ist, | |
in der wir alle gut leben können, dann mobilisieren wir nicht aus einer | |
Angst heraus, sondern aus einer Liebe zur Natur. Dabei spielt auch das | |
Zelebrieren anderer Kulturen eine Rolle, die aus dem westlichen Geist durch | |
Kolonialisierungsprozesse verdrängt worden sind. Nur radikale soziale | |
Transformationen werden uns Lösungen geben. | |
Welche Rolle spielen Dekolonialisierungsprozesse im Kampf gegen die | |
Klimakatastrophe? | |
Es ist essenziell zu verstehen, dass der Kolonialismus nicht in den 1940er | |
Jahren endete. Er nahm nur eine neue Form an. Es gibt Parallelen zwischen | |
dem alten und dem neuen Kolonialismus. Mit den freien Strukturen kamen | |
automatisch neue Systeme, die uns rekolonialisierten. Deshalb müssen wir | |
von den Systemen lernen, die sich dem Kolonialismus widersetzten. Diese | |
Art der Selbstbestimmung, die Mahatma Gandhi in Indien etablierte, | |
inspiriert mich. Wir müssen uns fragen: Wie können wir neue Freiheit | |
schaffen? Wie neue Strukturen der Solidarität und der Integrität? | |
Welche neokolonialen Strukturen beobachten Sie heute? | |
Warum wurden die Weltbank und der Internationale Währungsfonds kreiert? Um | |
uns weiterhin als Kolonien zu behandeln. Aber jetzt auf eine raffinierte | |
Art und Weise. | |
Wieso das? | |
Die Weltbank gibt dir einen Kredit für Dinge, die du nicht brauchst. Sie | |
erhalten dafür Zinszahlungen und schaffen Unternehmen. Für jeden Dollar von | |
der Weltbank gehen drei Dollar an Firmen, die die lokale Wirtschaft | |
zerstören. Das ist das Problem in so vielen Ländern. Diese Strukturen | |
wurden den Ländern in der Dritten Welt aufgezwungen, wenn sie eigentlich | |
einen anderen Weg hätten gehen können. Das Streben nach Wachstum war die | |
treibende Kraft. | |
Welchen anderen Weg hätte der Globale Süden denn gehen können? | |
Die Idee, wir seien alle separate Individuen, ist für mich eine koloniale, | |
ontologische Vorstellung des Menschen. Das zu verstehen, ist einer der | |
wichtigsten Schritte im Prozess der Dekolonialisierung. Wir sind soziale | |
Wesen, wir sind Gemeinschaft. Und wenn wir diesen Gemeinschaftssinn | |
verloren haben, heißt das nicht automatisch, dass wir ihn nicht | |
regenerieren können. Die industrielle Revolution und die grüne Revolution | |
haben so viel zerstört, aber wir können es wieder heilen. Wir müssen neue | |
Gemeinschaften schaffen und vor allem lokale Wirtschaften stärken. | |
Von welchen Denkweisen sollten wir uns noch verabschieden? | |
Der Kapitalismus lässt uns glauben, dass Wettbewerb eine menschliche | |
Eigenschaft ist, aber das stimmt nicht. Adam Smith sagte, wir seien mit | |
einem Streben nach Wettbewerb geboren. Ich glaube, dass Kooperation in | |
unserer Natur liegt, in der Natur aller Lebewesen. Und Frauen waren jene, | |
die die Kooperation aufrechterhalten haben. | |
Haben Frauen deshalb eine besondere Rolle im Kampf gegen die | |
Klimakatastrophe? | |
Gandhi hat jeden Tag ein Gebet aufgesagt: „Mach mich weiblicher.“ Er war | |
komplett gewaltfrei, doch trotzdem wusste er, dass er durch das Weibliche | |
noch gewaltfreier werden kann. Ich sage nicht, dass Fürsorge und Mitgefühl | |
in unseren Genen steckt. Ich bin keine genetische Reduktionistin, aber die | |
Arbeitsteilung hat es Frauen überlassen, sich um die wichtigen Dinge im | |
Leben zu kümmern. Die unwichtigen Dinge blieben für die freie | |
Marktwirtschaft. Und jetzt, da das Leben an sich bedroht wird, müssen wir | |
herausfinden, was im Leben wichtig ist und was nicht. Frauen sind | |
Expertinnen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. | |
14 Feb 2023 | |
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[1] /Gandhis-Urenkel-zum-150-Geburtstag/!5631062 | |
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[3] /DJ-Dominik-Eulberg-ueber-die-Natur/!5831149 | |
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## AUTOREN | |
Sabina Zollner | |
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