# taz.de -- „Gestern waren wir noch Kinder“ im ZDF: Bluttat mit Vorlauf | |
> Warum hat ein glücklicher Vater seine Frau umgebracht? Um diese Frage | |
> entspinnt sich eine Serie, die Thriller und Familiendrama in einem ist. | |
Bild: Spiel mit den Zeitebenen: Warum tötet Peter (r.) fünfundzwanzig Jahre s… | |
Ein Mädchen in ziemlich derangierter Schuluniform humpelt vorbei an zwei | |
Obdachlosen, bricht zusammen, fängt an zu heulen. Eine Männerstimme spricht | |
aus dem Off, offenbar zu ihr: „Vor 16 Stunden war deine Welt noch in | |
Ordnung. Meine auch. Wir waren eine so verdammt glückliche Familie. Aber | |
irgendwann musste es wohl zur Katastrophe kommen.“ | |
Schnitt auf eine Villa mit Garten, dazu die Einblendung „16 Stunden | |
vorher“. Da war die Welt noch in Ordnung, das haben wir schon gehört, jetzt | |
wird es uns gezeigt: die verdammt glückliche Familie aus Vater, Mutter, | |
drei Kindern und Bruno, dem Hund. | |
Mehr Standard geht nicht. Konventioneller ließe sich der Einstieg in einen | |
öffentlich-rechtlichen Fernsehthriller kaum gestalten – oder wie es in der | |
Diktion des ZDF heißt: „eine Serie ganz auf der Höhe der Zeit“. Dazu geh�… | |
nicht nur das obligatorische Vorgreifen am Anfang, die Rahmenhandlung, | |
sondern auch das Ausbreiten der Geschichte auf verschiedenen Zeitebenen. | |
An ihrem vierundvierzigsten Geburtstag [1][ersticht der Vater] (Torben | |
Liebrecht) die Mutter (Maria Simon) mit dem Küchenmesser. So meldet er es | |
der Polizei – die Tat selbst wird an dieser Stelle nicht gezeigt. Die | |
Gründe nicht genannt. Es bleiben Zweifel. Gab es möglicherweise doch einen | |
anderen Täter? Was ist zum Beispiel mit diesem leicht psychopathisch | |
wirkenden Jungpolizisten (Julius Nitschkoff)? Dem hat die sterbende Mutter | |
mit letzter Kraft nämlich noch ins Ohr geflüstert: „Pass auf meine Kinder | |
auf.“ Also, wenn man ihm glauben darf. | |
Die Geschichte wird im linearen TV als Dreiteiler und [2][in der | |
ZDF-Mediathek in sieben Episoden] erzählt. Am Ende, unmittelbar vor der | |
Auflösung der Bluttat, wird die Frau zum Mann sagen: „Ich habe jemanden | |
geliebt, den es einfach nicht gibt. Du bist Fake. Du bist einfach Fake!“ | |
Dann gibt es noch die Geschichte, dass der Vater mit 18 „schon vier | |
Menschen auf dem Gewissen hatte“. Das wird in diesen Worten zu Anfang als | |
ganz großes Rätsel aufgebaut, dann aber nach einer Stunde schon wieder | |
aufgelöst. Es war ein Dummejungenstreich mit Folgen, ausgerechnet auf der | |
Abiturfeier. Dieser ein Vierteljahrhundert zurückliegende Zeitstrang | |
breitet dann aus, wie der Vater und die Mutter damals zusammengekommen | |
sind. Für sie war er (in der jüngeren Version gespielt von Damian Hardung) | |
die große Liebe – er dagegen hatte eigentlich eine andere Favoritin, ihre | |
beste Freundin. Schicksalhaft wird unterstellt: Hätte er die auf der | |
Abifeier nur zum Tanz aufgefordert, wäre sein Leben vielleicht ganz anders | |
verlaufen. | |
Seine Schwester ist außerdem als Kind an einem Wespenstich gestorben, die | |
Mutter (Karoline Eichhorn) darüber verrückt geworden, sodass er seinem | |
eigenen Vater, einem Choleriker, quasi alleine ausgeliefert war. Nach den | |
Regeln der Küchenpsychologie trägt dieser Vater des Vaters die | |
Verantwortung für alles Unglück in dieser Geschichte. Eine Paraderolle für | |
Ulrich Tukur, keine Frage. | |
Überhaupt ist die Serie herausragend besetzt, alle Darsteller spielen | |
hervorragend – mit einer Ausnahme, ausgerechnet in der weiblichen | |
Hauptrolle der ältesten Tochter. Darstellerin Julia Beautx ist sonst eine | |
YouTuberin in Sachen Beauty. Das wundert nicht, weil das ZDF den | |
Altersschnitt seines 60+-Publikums etwas senken möchte. | |
Regisseurin [3][Nina Wolfrum] („Nord bei Nordwest“) und Autorin Natalie | |
Scharf (27 „Frühling“-Filme mit Simone Thomalla) wollen viel mit „Gestern | |
waren wir noch Kinder“. Die beiden machen hier mindestens zwei Filme in | |
einem. Einerseits einen bis zur letzten Minute spannenden Thriller und dann | |
noch das ins Mark gehende anrührende Familiendrama. | |
Der Genrefilm hat es hierzulande, mal abgesehen vom Regionalkrimi, recht | |
schwer. Hier nun mäandert ein Mehrteiler orientierungslos zwischen den | |
beiden genannten Genres. Das zeigt leider vor allem, wie wenig seine | |
Urheberinnen anscheinend bereit waren, eines der beiden Genres wirklich | |
ernst zu nehmen. | |
8 Jan 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Schwerpunkt-Femizide/!t5514275 | |
[2] https://www.zdf.de/serien/gestern-waren-wir-noch-kinder | |
[3] /Koelner-Tatort-ueber-Wohnungslosigkeit/!5756663 | |
## AUTOREN | |
Jens Müller | |
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