# taz.de -- Stanford-Professor über Deutschland: „Der deutsche Traum ist aus… | |
> Wovon träumen wir heute, individuell und als bundesdeutsche Gesellschaft? | |
> Hans Ulrich Gumbrecht sagt: Da gibt es nicht mehr viel. | |
Bild: Hans Ulrich Gumbrecht im Jahr 2016 | |
Vor der „Language Corner“ im Herzen der Universität Stanford steht Hans | |
Ulrich Gumbrecht im schwarzen T-Shirt und raucht eine Zigarette zu Ende. | |
Danach gehen wir in sein Büro, wo er Diet Coke anbietet. Er ist als | |
Literaturprofessor im Moment der Wiedervereinigung 1989 aus der | |
Bundesrepublik an die kalifornische Superuniversität gegangen, um sich | |
seinen persönlichen amerikanischen Traum zu erfüllen. Und es hat | |
tatsächlich geklappt. | |
wochentaz: Herr Gumbrecht, was fällt Ihnen zu dem Begriff „Der deutsche | |
Traum“ ein? | |
Hans Ulrich Gumbrecht: Ich rede aus der Perspektive meiner deutschen | |
Generation, 1948 geboren. Also typisches Nachkriegsprodukt. Als eine | |
prägende Gestalt erinnere ich mich an meinen Latein- und Deutschlehrer in | |
der ersten Klasse des Gymnasiums. Er war als Sudetendeutscher CSU-Mitglied | |
und nahm das sehr ernst. Seine Maxime lautete: Man muss in einer | |
demokratischen Partei sein, damit dieses Land ein demokratisches wird. Das | |
war der deutsche Traum, unter dem ich aufgewachsen bin: Dass dieses Land | |
zum ersten Mal in seiner Geschichte eine stabile, funktionierende | |
Demokratie wird, was in der [1][Weimarer Republik] gescheitert war. | |
Hat geklappt. | |
Die Erfüllung dieses Traums ist eine der großen Erfolgsgeschichten des 20. | |
Jahrhunderts. Bei aller Kritik, die man haben kann: Das Land funktioniert | |
heute als durchaus stabile Demokratie, verglichen etwa mit der | |
klassisch-demokratischen Traditionsnation Frankreich. Keiner käme auf die | |
Idee, dass jetzt Habeck oder sonst jemand Diktator werden sollte. | |
Sie haben Deutschland 1989 verlassen. Offenbar fanden Sie es so prickelnd | |
dann auch wieder nicht. | |
Ich bin 1989 nach Stanford gewechselt, weil ich damals eine eher diffuse | |
Lust hatte, wegzugehen. Nicht aus Protest, aber schon aus einem Gefühl, das | |
ich damals kaum hätte formulieren können: Weil sich der deutsche Traum eben | |
erfüllt hatte. Die Realisierung der normativen Vorstellung war gelungen. | |
Sie hätte auch nicht gelingen können. Hat wohl auch mit einem eher | |
individuellen Charakterzug zu tun. Ich lebe von und in ungelösten Aufgaben, | |
man kann das ebenso als neurotisch wie als geradezu heroisch ansehen. Wenn | |
Sie mich nun fragen, was heute der deutsche Traum ist, dann sehe ich | |
einfach keinen. In diesem Kontext erklärt sich vielleicht auch, warum die | |
EU-Idee eigentlich nur in Deutschland eine gewisse Resonanz hatte und immer | |
noch hat: Man möchte den Traum vom funktionierenden Deutschland [2][durch | |
den EU-Traum] ersetzen. | |
Sie schauen nicht gerade begeistert. | |
Ich fand den EU-Traum nie sehr attraktiv. Keine Einwände, aber er zieht | |
mich nicht an. | |
Warum nicht? Deutschland hat keine Zukunft ohne Europa, und Europa keine | |
ohne Deutschland. Wir sind diesem Traum rational verpflichtet. | |
Er kam mir immer sehr abstrakt vor, ein akademischer Gedanke eher als eine | |
politische Utopie. Derselbe Lehrer sagte damals, man müsse Latein als erste | |
Fremdsprache lernen, weil hier die Matrix einer europäischen, nicht nur | |
einer deutschen Kultur läge. Heute kann ich artikulieren, dass ich seine | |
extreme Differenzierung auf engem Raum, die Vielfalt der Sprachen und | |
Kulturen für die singuläre Stärke des alten Kontinents halte. Dass die | |
Unterschiede verschwinden, dieser Gedanke hatte für mich nie eine besondere | |
Attraktivität. Der Traum von der EU erlebte wohl seinen letzten | |
Intensivitätsmoment mit der Osterweiterung … | |
… als 2004 Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, | |
Tschechien, Ungarn, zudem Malta und Zypern beitraten. 2007 folgten Rumänien | |
und Bulgarien. Die Verbreiterung ist also gelungen, die Vertiefung kommt | |
selbst durch den russischen Angriffskrieg nicht voran. | |
Ja, seither ist der Traum immer bleicher geworden. Und man verschätzte sich | |
auch, weil man glaubte, ohne Militär eine Weltmacht sein zu können. Der nie | |
eingestandene Traum von der Weltmacht Europa hat sich nie konkretisiert. | |
Nehmen Sie meinen Vater, Wirtschaftswunderkarriere, CSU-Wähler, 2005 | |
gestorben. Der Traum von Deutschland als demokratisches Land spielte eine | |
sehr motivierende Rolle für ihn. Dass bestimmte Dinge in Deutschland nie | |
mehr passieren durften, das war wichtig. Die EU hat ihn schon nicht mehr | |
erfasst. | |
Ist es angesichts der deutschen Vergangenheit nicht vielleicht auch ganz | |
gut, dass wir keine nationalen Träume mehr haben, oder braucht die liberale | |
Demokratie etwas Verbindendes, das nicht nur auf Gegenwärtiges, sondern | |
auch auf eine gute Zukunft gerichtet ist – oder ist das zu pädagogisch | |
gedacht? | |
Man genießt heute – zumal in Europa – einen früher undenkbar hohen Grad an | |
individueller Freiheit, und kann mehrfach im Leben den Beruf und auch die | |
Lebenspartner wechseln. Dies sind alles auch Bewegungen und Symptome einer | |
fortschreitenden Segmentierung, einer Segmentierung ohne Ziel oder gar | |
Utopie. Global gesehen ist das – nicht an den ehemaligen amerikanischen | |
Präsidenten gebundene – [3][Trump]-Phänomen vielleicht eine Reaktion auf | |
diese Situation. Es könnte sich wohl auch in Europa einstellen. | |
Woraus speist sich eine solche Reaktion? | |
Aus dem Wunsch, wie meine amerikanischen Studenten auffällig oft sagen, „to | |
hold on to something“ – sich an etwas festhalten zu wollen. Ich war einmal | |
bei einer Wahlveranstaltung von Trump im Cow Palace von San Francisco, da | |
spürte man sehr deutlich, dass er für seine Anhänger eine Gestalt war, die | |
diesem Bedürfnis entgegenkam. Sie wollten in negativer Energie aufgehoben | |
sein. | |
Das ist das Gegenteil des amerikanischen Traums, also von dieser | |
altbekannten Dynamik, dass man durch den positiven Glauben an sich selbst | |
alles erreichen kann. | |
Die Umverteilungs- und Angleichmechanismen sind in den USA wesentlich | |
schwächer, die Gehälterschere ist auseinandergegangen, und der | |
amerikanische Traum, eine Aufstiegschance zu haben, ist gewiss nicht mehr | |
so stark wie vor 33 Jahren, als ich hier ankam. Aber besonders auf dem | |
Campus von Stanford sehe ich den Traum noch. Für den Großteil der Studenten | |
bedeutet der Abschluss hier, dass sie gegenüber ihren Eltern sozial | |
aufgestiegen sind. | |
Die Eltern der Stanford-Studis waren doch meist selbst auch in Stanford. | |
Manche, aber gewiss nicht die meisten. Wir haben viele Asian Americans, oft | |
über Vancouver in die USA gekommen. Manchmal sind ihre Eltern zwar reich, | |
aber die Kinder schaffen den symbolischen Aufstieg und werden Professoren | |
mit dem finanziellen Polster eines anstehenden Erbes. Aber es gibt bei der | |
jungen intellektuellen Generation im Land schon auch einen Traum des | |
Sozialdemokratismus. | |
Im Stil von Alexandria Ocasio-Cortez? | |
Genau. Wir sind aber noch nicht an dem Punkt angekommen, wo der nun | |
individuell interpretierte amerikanische Traum des sozialen Aufstiegs an | |
sein Ende gekommen ist. Im Blick auf einen neuen Traum sehr interessant | |
finde ich Peter Thiel, den ich sogar kennengelernt habe. | |
Der superlibertäre Paypal-Gründer und Trump-Unterstützer? | |
Die meisten Silicon-Valley-Reichen sind Demokraten, nach amerikanischen | |
Standards sogar linke Demokraten, Thiel ist die eine Ausnahme. Er gibt in | |
Stanford ab und an Seminare mit einem politisch ähnlich orientierten | |
Kollegen von mir, was immer neu durchgesetzt werden muss, weil die Mehrzahl | |
meiner demokratisch wählenden Kollegen dagegen sind. Aber Thiel kommt enorm | |
gut vorbereitet in seine Seminare – und ich halte dieses Kontrastprogramm | |
für wichtig. Als Thiel anfing, stelle ich mir vor, wollte er wohl erst mal | |
zweistelliger Milliardär werden. | |
Warum zweistellig? | |
Na ja, er wollte in der allerobersten Liga spielen – und er lebt gerne | |
exzentrisch in jeder Dimension. Er ist mit seinem Freund verheiratet, | |
klassisch belesen, frappierend belesen sogar, muss ich sagen. Er hat Trump | |
dafür kritisiert, dass er nicht genug Diskontinuität gebracht hat. Und nun | |
sitzt er nicht auf seinen Milliarden, sondern ist auf der Suche nach einer | |
ganz großen neuen Idee. Meine These ist: Es ist Thiels Traum, jene | |
Diskontinuität erfolgreich zu verkörpern und zu repräsentieren, die er bei | |
Trump vermisst hat. | |
Sie haben unlängst in Deutschland gelehrt. Wovon träumen hier die jungen | |
Studierenden? | |
Ja, ich habe kürzlich ein Seminar an der Uni Bonn gegeben, 25 sehr gute | |
Studenten, aber der einzige unter ihnen, der eine starke individuelle | |
Motivation hatte, war ein Brasilianer, der mit selbst gespartem Geld nach | |
Europa gegangen war, um bei Markus Gabriel Philosophie zu studieren. Ich | |
könnte nicht sagen, dass er der am höchsten qualifizierte Student war, aber | |
es war definitiv derjenige, der einen Unterschied machte, wie man in den | |
USA so gerne sagt. Dem jede einzelne Sitzung als Gelegenheit wichtig war, | |
herauszuragen. Die anderen kamen schon auch regelmäßig, waren gut | |
vorbereitet, aber … | |
Aber? | |
Ich habe ein Seminar zum gleichen Thema an der Hebrew University in | |
Jerusalem gehalten, und da ging intellektuell die Post mit einer anderen | |
Intensität ab, man rieb sich aneinander. Es steht in Israel immer ein | |
existenzieller Einsatz auf dem Spiel. Dieses Gefühl produzierte in Bonn nur | |
der brasilianische Student. | |
Wie reagierten die Deutschen auf den, dem es um etwas ging? | |
Sie haben ihm Komplimente für sein wirklich fließendes Deutsch gemacht – | |
und fanden ihn sonst vielleicht Borderline-neurotisch. | |
Warum werden Menschen, die sichtbar Gefallen daran haben, nach Exzellenz zu | |
streben, in der deutschen Kultur notorisch als Profilneurotiker abgewertet? | |
Ja, wenn dieser Brasilianer Deutscher gewesen wäre, hätte er wohl Anstoß | |
erregt, aber weil er Brasilianer war und eine Hirnoperation hinter sich | |
hatte – wovon er nicht selten sprach –, galt er auch als ein Opfer der | |
historischen Umstände und durfte ehrgeizig sein. Aber einen | |
Motivationsschub bei den anderen hat er sicher nicht ausgelöst. | |
Ist das tatsächlich Ihr Eindruck von Deutschland: Dass es uns um nichts | |
geht? | |
Na ja, als ich in Bonn ankam und fragte, was die Universität von mir | |
erwartet, hörte ich zunächst immer wieder: Machen Sie mal, Geld ist | |
jedenfalls da. Mittlerweile habe ich Kollegen gefunden, die konkrete | |
Aufgaben für mich haben – und fühle mich wohler. Ähnliches fällt mir auch | |
bei den paar Reichen auf, die ich in Deutschland kennengelernt habe. | |
Während Thiel damit befasst ist, noch ein ganz großes Ding zu finden – was | |
haben da die deutschen Reichen für Träume? Ihr Geld an ein paar | |
Generationen weiterzugeben. Ich sprach mal einen Unternehmersohn, der in | |
der Provinz eine Art neuen SC Freiburg aufbauen wollte, aber das war dann | |
wohl zu anstrengend. | |
Und? | |
Er blieb Bayern-Fan. | |
Wenn es der amerikanische Traum war, aufzusteigen und damit auch mehr zu | |
schaffen als andere, dann war es der deutsche Traum, als Einzelner oder | |
Familie aufzusteigen und genauso viel zu haben wie die Nachbarn, das war | |
die Industriegesellschaft mit ihrem Sozialdemokratismus von Union und SPD. | |
Das war langweilig, aber ein gemeinsames Projekt. | |
Ja, und mehr war nicht gewünscht. Es reichte, nicht unterlegen zu sein. In | |
dieser Hinsicht erinnere ich mich an die nationale Reaktion auf den ersten | |
deutschen Weltmeistertitel im Fußball 1954, als ich sechs Jahre alt war: | |
Wir sind wieder wer. Im Nachkriegsklima wurde aus dem Sieg im Endspiel – | |
gegen eine in jeder Hinsicht überlegene ungarische Mannschaft, ein | |
Unentschieden im internationalen Ansehen. Und dabei ist es geblieben. Man | |
kann das natürlich auch als eine Spielform des demokratischen Geistes | |
ansehen. | |
Es scheint, als hätten sich die Träume der Jüngeren häufig in den eigenen | |
Körper und dessen Veränderung und Optimierung verlagert. Warum? | |
So sehe ich das auch, ein Phänomen jener individuellen Segmentierung ohne | |
Träume, von der wir vorhin gesprochen haben. | |
Gleichzeitig gibt es den individuellen Traum vom Ende jeder Abhängigkeit, | |
sogar der vom eigenen Körper? | |
Dies ist die restpolitische Artikulation desselben Individualismus. Keine | |
Abhängigkeit, keine Fremdbestimmtheit – ohne Visionen oder Träume von dem, | |
was man aus dieser Unabhängigkeit machen könnte. | |
Was ist mit Sex, der ja aus meiner Sicht am besten in wechselseitiger | |
Resonanz funktioniert? | |
Dass wir in einem postsexuellen Zeitalter leben, ist schon längst keine | |
originelle Antwort mehr – und entbehrt als Antwort eines | |
Vierundsiebzigjährigen nicht einer unfreiwilligen Komik. Um noch einen | |
draufzusetzen: Das Reden über Sex der neuen Generationen erinnert mich | |
immer mehr an Unterhaltungen über gesundheitsorientierte Morgengymnastik. | |
Kann man etwas Positives erträumen, was die Leute in ihrem | |
fortgeschrittenen Individualismus nicht in Frage stellt und dennoch ein | |
gemeinsames Zukunftsprojekt umfasst? | |
Es gab Momente im 21. Jahrhundert, wo das ökologische Projekt | |
Motivationspotenzial hatte. Aber ich habe das Gefühl, auch das ist wieder | |
schwächer geworden. Diese individualistische Vereinzelung ist eine | |
Einbahnstraße, und ständige Bearbeitung von Krisen gebiert keine Träume, | |
die uns zusammenbringen können. Bestenfalls steigert sie jene intransitive, | |
nicht mehr zielorientierte Unabhängigkeit. | |
Wenn wir keine Träume mehr haben und unsere Jungen auch nicht, was dann? | |
Wenn man behauptet, dass das nordatlantisch-westliche nicht das einzige | |
lebenswerte Weltbild ist, dann muss man wohl unseren verblassenden Träumen | |
die Träume anderer entgegenstellen. Ein Gegenbeispiel könnte Südkorea sein, | |
da ist auch – historisch – etwas gelungen, wirtschaftlicher Aufstieg und | |
eine relativ gut funktionierende Demokratie in einer immer noch geteilten | |
Nation. | |
Die Freiheitserweiterungen des Einzelnen und die Vereinzelung stehen dem | |
kollektiven Handeln gegenüber, das gern gefordert wird, ohne dass viele der | |
sich „progressiv“ Nennenden den Widerspruch erkennen. | |
Die These lautet noch mal, dass dies mit jener Drift in die Vereinzelung zu | |
tun hat. Mein Romanisten-Kollege Robert Harrison und ich hatten in Stanford | |
eine Philosophical Reading Group, wir trafen uns jeden Donnerstagabend in | |
einer Gruppe von etwa dreißig Kollegen und Studenten, um ohne | |
Professorenverpflichtung und ohne Studentenscheine philosophische | |
Klassiker zu lesen. Nach vielen Jahren haben wir beide gesagt, wir machen | |
das nicht mehr. Es gab ein schönes Abschiedsessen, und alle Anwesenden | |
sagten, sie würden jedenfalls weitermachen. Aber nichts ist zustande | |
gekommen, selbst in Stanford. | |
Warum nicht? | |
Die Resonanzfähigkeit ist mit der Individualisierung geschwunden. In der | |
Digitalisierung läuft die Entfaltung des Einzelnen auf etwas hinaus, das er | |
allein verfolgt. Man schaut sich das eine an, ist über das andere | |
informiert, liest plötzlich Gottfried Keller und wird dann Spezialist für | |
sizilianische Gegenwartsliteratur. Aber man findet niemanden, der genauso | |
konzentriert sizilianische Gegenwartsliteratur verfolgt, wie man selbst. | |
Man macht das also ganz allein, in undramatischer Einsamkeit, und es gibt | |
dabei weder Niederlagen noch Siege. Interessant, wie viele Leute Sprachen | |
lernen, ohne ein Projekt damit zu verfolgen, sie wollen nicht mal irgendwo | |
hinziehen, sie tun das nur für sich. | |
Welche Rolle spielt die Coronapandemie in der Vereinzelung? | |
Ich habe im Moment das Gefühl oder eher die Befürchtung, dass sich diese | |
Universität … | |
… Stanford … | |
… von Covid nie mehr ganz erholen wird. Und wenn sich Stanford schon nicht | |
erholte, dann bestünde der Verdacht, dass Covid ein gefährliches Ereignis | |
für die westliche Universität als Institution ist. Präsenz kommt mir | |
deshalb inzwischen noch wichtiger vor als vorher schon. Der Bedarf von | |
Studenten, die mich Emeritus morgens im Coupa Café treffen wollen, wächst | |
beinahe dramatisch. Die sind ganz begeistert von so einer Stunde intensiven | |
Redens. Jene Geselligkeit, die ein Kern der Universität war, die zerbricht | |
zwar nicht, aber sie diffundiert in eine Vereinzelung. Es gibt weiterhin | |
großartige Ideen und Projekte, aber ich spüre keine Vibrations mehr. | |
Wie kann man unter diesen Umständen eine Form von Republikanismus | |
hinkriegen, also ein Engagement nicht nur für sich und die eigene | |
Minderheit, sondern ein Engagement für das Ganze? | |
Die einzige Antwort, die mir einfällt: Solche kollektiven Projekte müssten | |
deutlich lokal sein. Dafür würden sich die jüngeren Zeitgenossen vielleicht | |
engagieren, nicht aber für ein abstraktes Projekt. Die große Energiewende | |
ist zu abstrakt, aber wenn man sie herunterbrechen kann und wenn Effekte | |
persönlicher Begegnung dazukommen, dann geht es möglicherweise. Allerdings | |
gibt es auch lokales Engagement, das auf der Seite des Individuellen | |
abgebucht werden muss, etwa emotionales Engagement für einen Fußballclub, | |
an dem sonst niemandem liegt. Letztlich leiden wir Älteren an dieser | |
Auflösung kollektiver Energien. Die Jüngeren vermissen sie kaum. Vielleicht | |
haben wir in den vergangenen Stunden von einer nicht mehr aufzuhebenden | |
historischen Veränderung gesprochen. Von einer – positiv formuliert – | |
globalen Entspannung, nicht mehr nur von der Absenz eines spezifisch | |
deutschen Traums. | |
11 Jan 2023 | |
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