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# taz.de -- Ukrainer flüchten nach Ungarn: Nächste Ankunft 2.46 Uhr
> Aus dem Krieg über die Grenze in die ungarische Kleinstadt Záhony. Hier
> bekommen Flüchtlinge Essen und Obdach. Denn in Záhony geht es menschlich
> zu.
Bild: Aus der Ukraine kommen täglich neun Züge in Záhony an
Am Morgen melden die Nachrichten, [1][in Odessa sei der Strom
flächendeckend ausgefallen]. Russische Drohnen haben das ukrainische
Energienetz angegriffen. In Záhony fällt der erste Schnee des Jahres vom
Himmel. Es sind kleine harte Flocken, die auf der Haut wehtun.
Der Bürgermeister zieht sich seine schwarze Mütze tiefer ins Gesicht. „Bald
werden wieder mehr Geflüchtete kommen.“ Die Mitarbeitenden der
Internationalen Organisation für Migration ([2][IOM]) treffen sich und
beraten darüber, die Schichten neu einzuteilen. Es werden demnächst mehr
Leute benötigt. Als um 15.30 Uhr der nächste Zug aus der [3][Ukraine] am
Bahnhof einrollt, sind 174 Passagiere an Bord. Die Helfenden am Bahnhof
holen noch mehr Plastiktüten mit Wasserflaschen und Lebensmitteln aus dem
Lager.
Záhony ist eine Stadt im äußersten Nordosten Ungarns. Nicht weit entfernt
von der ungarisch reformierten Kirche fließt die [4][Theiß], und auf der
anderen Seite des Flusses liegt schon die Ukraine. Die gemeinsame Grenze
der beiden Länder ist nicht sonderlich lang, knapp 140 Kilometer. Es
existieren fünf Grenzübergänge, aber nur in Záhony können Reisende die
Grenze mit dem Zug überqueren.
Záhony ist während des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine zu einem
Dreh- und Angelpunkt der Flucht geworden. Die ungarischen Grenzen sind
sonst eher für elektrisch gesicherte Stacheldrahtzäune und bewaffnete
Grenzbeamte bekannt. Die Politik der Migrationsverhinderung nach Europa ist
zum Kernprogramm des ungarischen Premierministers [5][Viktor Orbán]
geworden. In Záhony aber hat sich zehn Monate nach Kriegsbeginn eine
freundliche Routine etabliert. Die Menschen haben Erfahrung im Helfen. Sie
tun es mit Gelassenheit und Ruhe. Manchmal scheint es sogar, als habe die
kleine Stadt die neue Aufgabe gebraucht, um daran zu wachsen.
## Neun Züge täglich
Neun Züge aus der Ukraine kommen täglich in Záhony an. Sie kommen aus
Tschop auf der anderen Flussseite. Nur 20 Minuten Fahrt und doch gefühlt
eine weite Reise. Als der Nachmittagszug zum Halten gekommen ist, stellen
sich die Helfenden mitten auf das Gelände, breitbeinig, unübersehbar. Die
Passagiere tröpfeln aus der Bahn heraus. Vor dem Aussteigen prüft die
ungarische Grenzpolizei alle Pässe. Mehr nicht. Die Einreise ist derzeit
ohne Visum möglich.
Die Menschen klettern die steilen Zugtreppen hinunter, hieven Gepäck und
Kinder hinaus, blicken sich suchend um. Die Bahnhofsangestellten verweisen
gleich auf die Helfer und Helferinnen. Wann fährt der Zug nach Budapest?
Und wie geht’s dann weiter nach Wien? Eine Frau sagt, sie habe Fieber und
Halsschmerzen. Sie wird in das Behandlungszimmer des Roten Kreuzes
gebracht.
Auf dem Bahnsteig steht auch ein Helfer, der vom Zugpersonal mit Handschlag
begrüßt wird. Eine alte Frau legt ihm ein Stück Konfekt in die Hand. Er
bedankt sich mit einer Umarmung. Der Mann heißt Anmol Gupta, indischer
Medizinstudent aus der ostukrainischen Stadt [6][Charkiw]. Er ist in Záhony
gestrandet. Aber er fühlt sich ganz wohl dabei.
Anmol Gupta kam vor neun Jahren aus dem nordindischen Roorkee zum Studium
nach Charkiw. Im Februar fehlten ihm noch sechs Monate bis zum Abschluss.
Als der Krieg ausbrach, half er seinen Nachbarn, die Keller als Schutzräume
herzurichten. Das Helfen fühlte sich besser an als das Ausharren in der
unterirdischen Metrostation. Als eine Rakete vor seinem Wohnhaus einschlug,
floh Gupta und fuhr mit dem Zug über Lwiw nach Záhony. „Ich hatte keine
Ahnung, wo ich gelandet war.“
Anmol Gupta, angehender Herzchirurg, kam am 5. März in Záhony an und
beschloss zu bleiben. Er sagt, die Menschen in Záhony hätten ihm geholfen,
als er müde und verängstigt war. Sie gaben ihm zunächst etwas zu essen,
Wärme und Freundlichkeit, dann eine Unterkunft. Er versucht nun das Gleiche
zu tun und den Geflüchteten die Ankunft im Nachbarland zu erleichtern.
660.000 Ukrainer und Ukrainerinnen sind seit Kriegsausbruch über die Grenze
bei Záhony gekommen. Die Einwohner sagen, Anmol Gupta habe sie fast alle
persönlich gesehen. Sie sagen, er sei der gute Geist des Bahnhofs. Der
Kühlschrank im Aufenthaltscontainer der IOM ist voll. Frauen aus der Stadt
bringen Anmol Gupta regelmäßig Essen vorbei.
Er müsste eigentlich nach Charkiw fahren, seine Zeugnisse abholen. Aber wer
weiß schon, ob die medizinische Fakultät überhaupt noch steht. Wer weiß, ob
noch jemand von den Lehrenden dort ist. „Ich habe keinen Plan“, sagt Anmol
Gupta. Er lernt jetzt Ungarisch. Der Putzmann im Bahnhof unterrichtet ihn
nebenbei.
Záhony hat schon einmal bessere Zeiten gesehen. Im Verladebahnhof, in der
die Spurbreite der Züge vom ungarischen auf das ukrainische Schienensystem
umgestellt wird, arbeiteten in den 1980er Jahren 8.000 Menschen. Jetzt hat
die Stadt selbst noch gut 4.000 Einwohner. Davon sind 1.300 Rentner und nur
noch 300 Kinder. Es gibt drei Kirchen, eine Schule, ein Hotel, ein
Restaurant und eine Bar, die Pepe heißt, mit Billard, Darts und
Jägermeister.
Eigentlich war Záhony eine Stadt, die langsam von der Landkarte verschwand.
Bis der Krieg ausbrach.
## Menschen, die helfen
Da kamen gleich am ersten Tag Tausende Ukrainer*innen am Bahnhof an,
drängten sich an den Schaltern, saßen erschöpft auf dem Vorplatz. Um ein
Uhr am Mittag postete der Bürgermeister auf Facebook einen Hilferuf an die
Einwohner seiner Stadt. Fünf Stunden später war das Kulturhaus zur
Notunterkunft umgerüstet. Die Männer und Frauen aus Záhony hatten
Matratzen, Laken und Decken gebracht.
An diesem ersten Kriegstag ging auch Agnesa Zeplaki sofort zum Bahnhof, als
sie von den vielen Geflüchteten hörte. „Nichts auf der Welt hätte mich
davon abhalten können.“
Agnesa Zeplaki, 60 Jahre alt, war Anfang des Jahres gerade in Rente
gegangen. Bis dahin hatte sie die Bankfiliale in Záhony geleitet. Zeplaki
sitzt außerdem im siebenköpfigen Stadtrat von Záhony. Das Helfen ist für
sie auch eine Pflicht. „Ich möchte mit gutem Beispiel vorangehen.“
Agnesa Zeplaki teilt die freiwilligen Helfer der Stadt ein. Am Anfang hatte
sie über 200 Personen auf ihrer Liste, die sich gemeldet hatten. Sie kamen
überall her. Aus der Schule, aus der Bank, aus dem Supermarkt. Bis heute
schließt Zeplaki jeden Morgen den Container vor dem Bahnhof auf. Sie lässt
die Rollläden hoch, stellt die Kessel mit Heißwasser und Tee an und
sterilisiert die Tische.
Sie teilt jetzt noch zwanzig Helfende ein, hauptsächlich Frauen aus der
Stadt. Das genügt momentan. Die Hilfe ist zur Routine geworden. Das Gefühl
aus den Anfangstagen ist aber immer noch da. „Viele Menschen aus der Stadt
haben gemeinsam angepackt, das hat uns einander nähergebracht“, sagt sie.
Wenn Agnesa Zeplaki in diesen Tagen durch die Fenster des Containers in
Richtung Bahnhof schaut, sieht sie die Flocken, die inzwischen auf eine
geschlossene Schneedecke fallen. Auch sie hat gehört, was die Ankommenden
am Bahnhof erzählen. Dass es selbst in Tschop, so weit im Westen der
Ukraine, nur wenige Stunden am Tag Strom gibt. Zeplaki seufzt. „Und in
dieser Situation werden Kinder geboren. Unvorstellbar.“ Bald wird sie
vielleicht wieder mehr Helfende von ihrer Liste benötigen.
Vor dem Rathaus von Záhony blinken weiß-blaue Lichterketten, ein
luftgefüllter Schneemann wälzt sich im Schnee. Gut 200 Menschen stehen im
Dunkel des späten Nachmittags auf dem Platz und hören zu, wie die Kinder
der Kita Lieder singen. Die Kita-Leiterin und der katholische Pfarrer
sprechen ein Gebet, danach gibt es Glühwein und ein paar kurze Gespräche,
bei denen der Atem in Wolken davonfliegt.
Der Bürgermeister von Záhony ist auch da. Aber er spricht an diesem
Nachmittag nicht in das Mikrofon. Er wippt auf den Füßen, um sich warm zu
halten, und lächelt still in sich hinein.
## Der Bürgermeister von Záhony
Seit acht Jahren ist László Helmeczi Bürgermeister von Záhony. Als er sich
für das Amt bewarb, nahm er sich vor, wieder mehr Leben in die ruhige Stadt
zu bringen. Für große Baumaßnahmen, sagt Helmeczi, fehle das Geld in der
Stadtkasse. Aber eine Gemeinschaft könne er auch ohne viel Geld aufbauen.
László Helmeczi möchte gern, dass wieder mehr junge Leute in Záhony wohnen.
Er sagt, er würde gern Konzerte planen und Bildungsprogramme auflegen,
statt sich um den Zustand des Friedhofs zu kümmern.
Die Menschen in Záhony sprechen sehr gut vom Bürgermeister. Der indische
Medizinstudent Anmol Gupta sagt: „Er ist unvoreingenommen und in vielerlei
Hinsicht ein weiser Mann.“ Die Stadträtin Agnesa Zeplaki: „Die Stadt ist
seine Familie. Er tut alles für sie.“ Ein IOM-Mitarbeiter: „Er schafft es,
in einer Krise die Balance zu halten. Wenn er auftaucht, wird alles gut.“
László Helmeczi ist sehr oft am Bahnhof. Und wenn er dort ist, trägt er
Frauen den Koffer und sammelt Müll auf, der vor dem Mülleimer liegt. Er
sagt: „Helfen ist einfach menschlich.“
Ungarns Reaktion auf die Fluchtbewegungen im vergangenen Jahrzehnt waren
zwiespältig. Als im Jahr 2015 Menschen aus Syrien, Iran und Afghanistan
kamen, [7][schwadronierte Regierungschef Viktor Orbán in Budapest] von
einer „gelenkten illegalen Migration“, die die Eliten des Westens
angezettelt hätten. Im Ukrainekrieg gibt sich die Regierung offener. Die
Schutzsuchenden aus dem Nachbarland reisen von Záhony aus mit dem
sogenannten Solidaritätsticket mit der Bahn kostenlos weiter.
## Den eigenen Weg gehen
László Helmeczi sagt, er interessiere sich nicht für die Politik in
Budapest. Er und die sechs anderen Mitglieder des Stadtrates gehören keiner
Partei an. Bei der vergangenen Parlamentswahl im April 2022 wählten in der
Region etwa 70 Prozent der Bevölkerung die Orbán-Partei Fides. In Záhony
selbst waren es 40 Prozent. Laszlo Helmeczi erzählt davon mit Stolz. „Wir
gehen unseren eigenen Weg.“
Helmeczi besucht an diesem Abend die Notunterkunft für Geflüchtete in
Záhony. Inzwischen ist eine ehemalige Grundschule dafür hergerichtet
worden. 20 Jahre stand das Gebäude leer. Nun werden dort diejenigen
untergebracht, die so spät am Abend ankommen, dass kein Zug mehr fährt.
Einige bleiben länger.
László Helmeczi leert die Schale unter einem tropfenden Heizungsrohr, prüft
die Essensvorräte im Kühlschrank. Einiges hat sich verändert in Záhony,
seitdem das Helfen zum Alltag geworden ist. „Wir passen besser aufeinander
auf.“ Außerdem gibt es zwölf neue Kinder im Kindergarten und 17 in der
Schule.
Spät am Abend verlässt Agnesa Zeplaki den Container vor dem Bahnhof. Alles
ist schon vorbereitet für den nächsten Tag. Im Container bleibt Anmol Gupta
zurück. Er schläft nur selten in der Wohnung, die ihm die Stadt zur
Verfügung stellt. Stattdessen rückt er zwei Campingstühle zusammen, legt
sich auf die beiden Sitzflächen und breitet eine Decke über sich aus.
Um 2.46 Uhr kommt der nächste Zug aus Tschop. Dann wird Anmol Gupta am
Gleis stehen und helfen.
4 Jan 2023
## LINKS
[1] /-Nachrichten-im-Ukraine-Krieg-/!5902312
[2] https://germany.iom.int/de
[3] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Thei%C3%9F
[5] /Rechtsruck-in-Ungarn/!5869725
[6] /Millionen-Metropole-Charkiw/!5839527
[7] /Viktor-Orban-ueber-Fluechtlinge/!5231812
## AUTOREN
Diana Laarz
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