| # taz.de -- Böllerverbote als Klassenfrage: Je suis Problemklientel | |
| > Beim Böllerverbot sind sich Linksliberale und Polizei einig. Das ist | |
| > nicht alles falsch, aber doch Verrat an denen, für die Linke angeblich | |
| > kämpfen. | |
| Bild: Nur sinnlose Raketen sind gute Raketen | |
| Silvester 1998 in Hamburg-Altona. Von einer Nachbarin bekam meine Mutter | |
| das Angebot, den Neujahrsabend mit meiner Schwester und mir in ihrer | |
| Wohnung zu verbringen, während sie für den Jahreswechsel nach Frankreich | |
| fuhr. Vielleicht sagte meine Mutter zu, weil sie sich versprach, dass die | |
| Wände in der Wohnung der Nachbarin dicker waren als unsere. Vielleicht, | |
| weil das Wohnzimmer der Nachbarin einen besseren Blick auf die | |
| Nachbarstraße hergab – die Straße, in der alljährlich ein großes Spektakel | |
| herrschte. | |
| Man muss mit dieser Formulierung vorsichtig sein, aber als Kind habe ich es | |
| so empfunden: Silvester in unserer Nachbarschaft, das war Krieg. Gegen 23 | |
| Uhr stieg die Taktzahl der Detonationen. Im Sekundentakt pfiffen die | |
| Raketen am Fenster im vierten Stock vorbei, Kanonenschläge hallten zwischen | |
| den Häusern wider, einige junge Männer schossen mit Leuchtspurmunition um | |
| sich. Furcht und Voyeurismus rangen in mir um die Vorherrschaft. | |
| Ich hielt meinen Blick auf die Straße gerichtet und sah: Ein Linienbus, der | |
| blockiert und beschossen wurde; ein Erwachsener, der auf das Dach des | |
| Busses kletterte und sich von den Umstehenden feiern ließ; die Polizei, die | |
| kam, und versuchte, die Menge aufzulösen. | |
| Die Tage nach dem Jahreswechsel wateten wir durch einen Morast aus | |
| Böllermüll, Raketenüberresten und zerbrochenen Flaschen. Die Straßen waren | |
| gesäumt von Patronen aus Gas-, Schreckschuss- und Leuchtspurpistolen. Wie | |
| ein olfaktorisches Mahnmal hing der Geruch vom Schwefel noch tagelang über | |
| unserem Straßenzug. | |
| Vielleicht kam es mir nur so vor, aber die Stimmung zum Jahresbeginn war | |
| bedrückt, ganz so, als habe man sich für ein paar Stunden getraut, ein | |
| zügelloses Leben zu führen, sei gescheitert und kehre nun an den | |
| angestammten Platz zurück. Der Alltag hatte gesiegt, er hatte die Hoheit | |
| über die Leben der Menschen zurückgewonnen. | |
| ## Symbolischer Konsum | |
| Seit jenem Silvester habe ich in einigen Gegenden und Städten gewohnt, mit | |
| sehr unterschiedlicher Sozialstruktur, aber die Faustregel blieb stets | |
| dieselbe: Je prekärer das Viertel, desto größer war die Eskalation. | |
| Natürlich wird auch in höheren gesellschaftlichen Klassen geböllert. Als | |
| ehemaliger Waldorfschüler weiß ich, dass einige meiner wohlhabenderen | |
| Mitschüler sich ebenfalls bereits Wochen vor Silvester mit Raketen und | |
| Knallkörpern eindeckten. Von polizeilichen Maßnahmen wie den | |
| Böllerverbotszonen hingegen sind Wohlhabende strukturell nicht betroffen. | |
| Berlin hat in diesem Jahr mehrere dieser Verbotszonen eingerichtet. | |
| Betroffen sind Gebiete in Schöneberg, Alt-Moabit, dazu der Alexanderplatz. | |
| In Hamburg gelten an der Binnenalster und in Teilen der Innenstadt | |
| Böllerverbote – wo sich zu dieser Uhrzeit vor allem Jugendliche | |
| herumtreiben. „Problemklientel“, wie es abwertend im Sprech der | |
| Sicherheitsorgane heißt. | |
| Ein Teil des Phänomens, das hinter der Debatte über ein Böllerverbot | |
| steckt, nennt sich symbolischer Konsum. Die Spuren dieses Konsums lassen | |
| sich in der neueren Klassenliteratur finden. In „Wer hat meinen Vater | |
| umgebracht“ beschreibt der französische Schriftsteller Édouard Louis, wie | |
| sein Vater jährlich den Jahrmarkt herbeisehnte. „Im September wurden | |
| Fahrgeschäfte für den Jahrmarkt auf dem Dorfplatz aufgebaut, Schießstände, | |
| Spielautomaten. Dann gabst du in vier Tagen das Budget des ganzen Monats | |
| aus – das Geld, mit dem Essen, Rechnungen, Miete bezahlt werden mussten.“ | |
| Diese Art des symbolischen Konsums bedeutet für arme Menschen: Das Geld | |
| langt vorne und hinten nicht, aber wenigstens an ein oder zwei Tagen im | |
| Jahr möchte ich die Realität, in der ich als Verlierer gebrandmarkt werde, | |
| vergessen und so feiern, als wäre ich der König der Welt. | |
| An guten Gründen für ein Verbot der Silvesterböllerei mangelt es nicht. Der | |
| Lärm; die Umweltverschmutzung; die Verletzungen. Mit all diesen Gründen | |
| kann ich etwas anfangen. | |
| Seit der Coronapandemie ist ein neues Argument hinzugekommen: Die | |
| [1][Überlastung des Gesundheitssystems], konkreter der Krankenhäuser. Ein | |
| Pflegebetrieb am Limit könne sich nicht auch noch um weggesprengte Finger | |
| und verletzte Augen kümmern. Allerdings verraten ein paar hundert Einsätze | |
| an Silvester, so überflüssig sie sein mögen, vor allem einiges über den | |
| Stand eines kaputtgesparten Gesundheitssystems, als dass sie eine | |
| Aussagekraft über Verletztenzahlen eines Landes mit 83 Millionen Einwohnern | |
| entfalten. | |
| Es gibt wenige Gelegenheiten, in denen sich liberale Linke so moralisch | |
| überlegen fühlen, wie in der Debatte, ob am Jahreswechsel geknallt werden | |
| darf oder nicht. Die Wurzeln dieser Moral sind durch und durch bürgerlich, | |
| sie zeigen, wessen Geistes Bruder diese Linksliberalen sind. Schon in den | |
| 1980er Jahren gab die katholische Kirche unter der Losung „Brot statt | |
| Böller“ die Schlagrichtung vor: Charity als Überlegenheitsgestus wird gegen | |
| die [2][niedere und proletarische Feierkultur] armer Menschen in Stellung | |
| gebracht. Jeder Gesellschaft die Linke, die sie verdient. | |
| Die Diskussion über ein Böllerverbot ist die perfekte Plattform, sich | |
| gegenseitig seines gesitteten Geschmacks zu gratulieren. Das Problem mit | |
| der Distinktion ist, dass es schon bald nicht mehr ausreicht, auf der | |
| richtigen Seite zu stehen, es gilt auch, die Richtigkeit der eigenen | |
| Argumentation durch Gesetze abzusichern. Aus unsichtbaren Codes soll – am | |
| besten sofort! – geltendes Recht werden. | |
| ## Kulturkampf statt Klassenkampf | |
| So hehr die Absichten hinter [3][linksliberaler Kumpanei mit der | |
| Polizeigewerkschaft] auch sein mögen: Wer ein Böllerverbot fordert, der | |
| ruft nach Kriminalisierung. Denn wo etwas verboten wird, da muss das Verbot | |
| umgesetzt werden. Zuständig dafür ist die Polizei, die genau dazu gegründet | |
| wurde – [4][zur Sanktionierung armer Menschen]. In Hamburg und [5][Berlin] | |
| (dort in Koalition mit der Linken) wird diese Kontinuität unter rot-grünen | |
| Landesregierungen auch diesen Silvester fortgesetzt, wenn migrantische | |
| Jugendliche durch ihre Viertel gejagt werden. Das ist weder progressiv noch | |
| links. | |
| Dafür ist der Ruf nach einem Böllerverbot Ausdruck eines Zeitgeistes, in | |
| dem [6][feministische Innenpolitik] bedeutet, unter dem Credo der | |
| Sicherheit für Frauen, die Bundespolizei aufzustocken und die | |
| Kameraüberwachung an neuralgischen Punkten auszubauen. In beiden Fällen | |
| sind es migrantisierte und arme Menschen, die unter den Maßnahmen leiden | |
| werden. | |
| Es ist derselbe Zeitgeist, indem sich die Linkspartei mit lauteren | |
| Argumenten für eine Impfpflicht einsetzt, die neben selbsternannten | |
| Querdenkern, vor allem jene sanktioniert, die nicht mitgemeint sind, wenn | |
| von „der Gesellschaft“ gesprochen sind. Die Abgehängten. Das | |
| „Problemklientel“. Diejenigen, die vermehrt zu Verschwörungstheorien | |
| neigen, häufiger als der Rest der Bevölkerung rechts wählen (wenn sie denn | |
| wählen) und sich seltener impfen lassen. Die Armen. | |
| Das Phänomen, das in diesem Text aus verschiedenen Richtungen beschrieben | |
| wird, ist die Abwertung armen Lebens. Man kann dieses Phänomen Klassismus | |
| nennen oder auch Sozialchauvinismus, wichtiger ist jedoch eine | |
| Entscheidung: Ist man solidarisch mit den Angehörigen der unteren Klasse – | |
| selbst wenn sich manche von ihnen nicht regelkonform verhalten? Oder wählt | |
| man aus zwischen guten, weil moralisch integren Armen, und jenen, die | |
| förmlich darum zu betteln scheinen, dass man sich von ihnen distanziert? | |
| Diejenigen, die jede sich bietende Gelegenheit nutzen, um armen Menschen | |
| unter der Fahne des moralisch Richtigen ihre Solidarität zu verweigern, | |
| handeln – ob sie wollen oder nicht – nach den Spielregeln des progressiven | |
| Neoliberalismus. | |
| ## Wider die Moral | |
| Wessen Zunge nun ein voreiliges „Querfront“ formuliert, aufgepasst: Nein, | |
| hier wird nicht anhand einer Debatte übers Böllerverbot die Freiheit des | |
| kleinen Mannes verteidigt, vielmehr geht es darum, dass unter dem Banner | |
| der Moral ein Kulturkampf geführt wird. „Wenn politische Fragen immer | |
| weiter kulturalisiert werden, vollzieht sich eine Polarisierung entlang | |
| kultureller Differenzen, anstatt entlang der Klassengegensätze“, benennt | |
| [7][Astrid Zimmermann im Jacobin] den Konflikt, den eine klassenbewusste | |
| Linke nur verlieren kann. | |
| Eine Linke, die es ernst meint mit Klassenkampf, entzieht nicht jenen | |
| reflexartig die Solidarität, die den Großteil ihres Arbeitslebens für die | |
| Gewinne höherer Klassen ausgebeutet werden. Eine Linke, die sich ihren | |
| Namen verdienen will, hakt sich ein, wo es möglich ist und kritisiert, wo | |
| es nötig ist. Aber sie verrät nicht diejenigen, für die zu kämpfen sie | |
| vorgibt, für ein paar Stunden Ruhe und eine Brise gute Luft. | |
| Wer den Kontakt zur unteren Klasse nicht verlieren will, kann sich eine | |
| solche Moral nicht leisten. Auch ich kann sie mir nicht leisten, erst recht | |
| nicht als jemand, der 80 Prozent seines Lebens in Armut verbracht hat. Als | |
| jemand, dessen Vater Dealer war und mehrfach im Gefängnis saß. | |
| Links sein und einen Klassenkompass zu besitzen bedeutet, den Freunden und | |
| Bekannten, die mit dem Gesetz in Konflikt kommen, nicht die Solidarität zu | |
| entziehen, sondern ihnen zu helfen. Es bedeutet, nicht nach Regeln und | |
| Verboten zu rufen, die Armutsbetroffene kriminalisieren. Es bedeutet, dass | |
| der Fokus den Kämpfen jener Frauen gilt, deren Löhne vorenthalten werden, | |
| und nicht denjenigen, die die Vorstände von Rheinmetall und Thyssen-Krupp | |
| paritätisch besetzen wollen. | |
| Ihnen zu signalisieren: Ich stelle meine Solidarität zu euch nicht | |
| vorschnell zur Disposition – das ist die Aufgabe, an der sich eine Linke | |
| messen lassen muss. Auch an Silvester, wenn Jugendliche in Berlin, Hamburg | |
| und anderswo von der Polizei durch ihre Viertel gejagt werden. | |
| 31 Dec 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Silvesterknaller-wieder-erlaubt/!5901473 | |
| [2] /Boellerverbot-zu-Silvester/!5822021 | |
| [3] /Boellerverbot-an-Silvester-in-Berlin/!5901932 | |
| [4] https://www.akweb.de/gesellschaft/die-geschichte-der-polizei-in-europa/ | |
| [5] /Versuchslabor-Berlin-Schoeneberg/!5646811 | |
| [6] https://www.rnd.de/politik/faeser-wollen-kameraueberwachung-ausbauen-A7EY4A… | |
| [7] https://jacobin.de/artikel/kulturkaempfe-kann-man-nicht-gewinnen-identitaet… | |
| ## AUTOREN | |
| Olivier David | |
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