# taz.de -- Streik in Großbritannien: Der große Ausstand | |
> Busfahrerinnen, Krankenpfleger, Postangestellte: Es sind die größten | |
> Streiks seit 30 Jahren. Überall fehlt es an Ressourcen. | |
Bild: Streikt zum ersten Mal in ihrem Leben: Kinderkrankenpflegerin Laura Tossel | |
LONDON taz | Rufe im Chor ertönen vom Haupteingang des Londoner Great | |
Ormond Street Hospital, das auf Kindermedizin spezialisiert ist. Auf einem | |
Tisch gibt es Tee und Snacks zur Stärkung. Laura Tossell, 29, steht mit | |
einem Schild dicht gedrängt neben etwa 100 anderen | |
Kinderkrankenpfleger:innen, die dort am Mittwoch vor Weihnachten streiken. | |
Sie zählt auf, was sie stört: Unterbesetzung, Überarbeitung, immer | |
schlechtere Arbeitsbedingungen, immer knapper werdendes Geld. „Uns bleibt | |
wenig, obwohl wir bis an unser Limit bei der Arbeit gehen. Wir arbeiten | |
sogar in unseren Pausen.“ Und es seien nicht nur die Angestellten, die | |
davon betroffen seien. „Unsere kleinen Patient:innen leiden am meisten | |
darunter, weil wir nie genug Zeit für sie haben.“ Laura Tossel fürchtet, | |
dass angesichts dessen das Wohl der Patient:innen bald nicht mehr zu | |
gewährleisten sei. | |
In Wales und England streiken an diesem Tag 100.000 | |
Krankenpfleger:innen für mehr als die von der Regierung gewährte knapp | |
vierprozentige Lohnerhöhung. Und sie sind nicht allein. Im Vereinigten | |
Königreich sind gerade viele Beschäftige des öffentlichen Diensts im | |
Streik. Bahnlinien liegen brach, die Post wird nicht zugestellt. | |
Laura Tossell streikt zum allerersten Mal in ihrem Leben. In der Klinik | |
seien Kolleg:innen, die während des Streiks das Notwendigste übernehmen | |
würden. „Wir lassen keine Patient:innen im Stich. Und dann konstatiert | |
sie nüchtern: „Ich frage mich, ob ich mir die richtige Karriere ausgesucht | |
habe, wenn man so hart für so wenig Geld arbeitet!“ | |
## Der größte Streik seit 30 Jahren | |
Einen Jobwechsel schließt Tossell nicht aus. Sie wäre nicht die Erste. Ein | |
vorbeigehender Mann schaltet sich ein. „Selbst wenn wir diesen | |
Kinderkrankenpfleger:innen doppelte Gehälter zahlen würden, ist es | |
immer noch zu wenig“, findet Max Harding, ein Rechtsanwalt, der gerade mit | |
seinem Sohn aus dem Krankenhaus kommt. Der 42-jährige Vater bezeichnet | |
Tossell und ihre Kolleg:innen als wahre Held:innen. | |
Der Besuch am nächsten Tag beim streikenden Londoner Rettungsdienst im | |
Stadtteil Islington ist atmosphärisch ein Kontrast zur Kinderklinik. Die | |
Garage der Zentrale, in der die Krankenwagen stehen, liegt in einem | |
Industriegebiet. Davor stehen 20 Angestellte, ohne zu singen oder zu | |
skandieren. Alle tragen Dienstkleidung. Es ist ihr größter Streik seit 30 | |
Jahren. Um Notrufe, bei denen es um Lebensgefahr geht, kümmern sie sich | |
weiterhin. | |
Gewerkschaftsvertreter Terry Stubbs, seit 26 Jahren im Rettungsdienst, | |
erzählt in ruhigem Ton, worum es geht. „Um den Arbeitsdruck, die langen | |
Wartezeiten, die fehlenden Investitionen und natürlich um unsere Gehälter.“ | |
Was sie innerhalb der letzten zehn Jahre an Lohnerhöhung bekamen, gleiche | |
einer Lohnsenkung. | |
„Als ich vor 26 Jahren anfing, gab es 1.100 Notrufe, heute sind es 7.000 | |
pro Tag, ohne dass wir ausreichend Krankenwagen oder Personal haben. Und | |
wenn wir endlich im Krankenhaus ankommen, [1][müssen wir oft stundenlang | |
mit Patient:innen warten], weil es keine Aufnahmekapazität gibt.“ Das | |
Warten dauert tatsächlich so lange wie noch nie. Der Stau der Krankenwagen | |
vor den überlasteten Notaufnahmen wird immer größer und das gefährdet das | |
Leben von Patient:innen. | |
## Durchhalten bis zur Rente | |
Stubbs ist 59 Jahre alt und will noch bis zur Rente durchhalten. „Hier | |
wurde lange nichts investiert“, kritisiert seine Kollegin Erin Whyte, eine | |
26-jährige Australierin, die aus ihrem Plan, nach Australien | |
zurückzukehren, kein Geheimnis macht. | |
Wer an allem schuld sei? Für Terry ein klarer Fall: Die Tory-Regierung! | |
„Sie können den öffentlichen Dienst nicht leiden und sparen ihn kaputt, um | |
zu privatisieren“, glaubt er. | |
Im kalten Regen sitzt in Londons Stadtmitte vor dem Mount Pleasant Depot | |
eine Gruppe streikender Postangestellter der Royal Mail, auf Gartenstühlen, | |
mit Gewerkschaftsfahne und einer Gasheizung. Nebenan hat die Royal Mail | |
nach ihrer Privatisierung ein riesengroßes Wohngebiet bauen lassen. Mit der | |
Zustimmung von Boris Johnson, damals noch Londons Bürgermeister. | |
Die Postangestellten haben diesen Wohnkomplex jeden Tag vor Augen, ebenso | |
wie die Tatsache, dass die Royal Mail 2022 einen Gewinn von 758 Millionen | |
Pfund machte. | |
Unter der Bedingung, dass die taz keine Namen nennt, reden sie. Die, die | |
hier versammelt sind, haben im Durchschnitt 30 Jahre Dienst hinter sich. | |
„Als ich anfing, waren wir 2.500 Angestellte, heute sind wir etwa 150.“ | |
Trotz der hohen Gewinne sei dieser treue Rest dem Vorstand nicht mehr als 2 | |
Prozent Lohnerhöhung wert. „Eine Unverschämtheit!“, schimpft einer. Es | |
stünden ihnen mindesten 10 Prozent zu, allein wegen der Inflation. | |
Am Tag darauf, es ist der 23. Dezember, stehen im strömenden Regen auf | |
einer Verkehrsinsel vor dem Londoner Flughafen Heathrow ein Dutzend | |
Angestellte der Grenzschutzbehörde. Ihr Job sind die Passkontrollen. Heute | |
ist ihr erster Streiktag. Vorbeifahrende Autos und Busse hupen hin und | |
wieder als Zeichen der Solidarität. | |
## Knappe Ressourcen, viele Überstunden | |
In ihre Regenjacke gehüllt, erinnert sich die Gewerkschaftsvertreterin Dawn | |
Paul, 57, wie es war, als sie vor 17 Jahren in den Dienst eintrat. „Es | |
wirkte wie ein Job mit großer Verantwortung.“ Verletzliche Personen | |
schützen, Terroristen oder Sexualverbrecher von der Einreise abhalten, das | |
sei spannend gewesen. | |
Mit Beginn der Austeritätspolitik vor zehn Jahren wären die Ressourcen | |
immer knapper geworden. „Wir haben einen Mangel an Arbeitskräften, weil wir | |
hauchdünn über dem Mindestlohn verdienen. Die meisten von uns hatten in den | |
letzten zehn Jahren keine Lohnerhöhung.“ | |
Dawn glaubt, man schätze ihre Arbeit zu wenig. Sie erzählt von einer | |
Mitarbeiterin, die vor Kurzem dazu gezwungen war, ihr Haus zu verkaufen, | |
weil sie mit der Inflation ihre Lebenshaltungskosten nicht mehr stemmen | |
konnte. Andere versuchten am Flughafen irgendwie etwas Essbares zu | |
bekommen, berichtet ein Angestellter. Wegen des Personalmangels würden | |
viele von ihnen Überstunden leisten. „Müdes Personal gefährdet die | |
Sicherheit des Landes“, sagt Dawn. | |
Einer ihrer Kollegen verweist auf die zig Streiks, die Großbritannien in | |
diesen Tagen stillstehen lassen: „Wir befinden uns womöglich vor einem | |
riesigen Volksaufstand.“ Von den Rekordgewinnen bei Transport-, Energie- | |
und Wasserunternehmen würden nur die Geschäftsführungen und Aktionäre | |
profitieren. „Es reicht!“ | |
## Harter Kurs | |
Vor einer Busgarage im Südlondoner Stadtteil Walworth stehen an die 30 | |
Busfahrer:innen von Abellio. Es ist eines von einem Dutzend | |
Unternehmen, die sich in London die privatisierten Busaufträge teilen. Die | |
Busfahrer:innen – alle sind Schwarz oder People of Color – glauben, | |
dass sie bei Abellio einen der schlechtesten Deals in London haben. | |
Esther Matthews ist noch nicht lange dabei. „Ich fuhr vorher Reisebusse, | |
aber als die Pandemie kam, reiste niemand mehr, es blieb nur noch der | |
Stadtbus.“ Auch hier herrscht Personalmangel. „Unsere Schichten können | |
zwölf, ja sogar vierzehn Stunden dauern. Wenn du einen Fehler machst, wirst | |
du sofort gefeuert.“ Die Krönung sei, dass man binnen zwölf Jahren den Lohn | |
nur um 4 Prozent erhöht habe. Ihr und den anderen Fahrer:innen reicht | |
das Geld nicht, während das Unternehmen Profit in Milliardenhöhe macht. | |
An Weihnachten folgte landesweit ein Bahnstreik. Nach Silvester wird es | |
weitergehen, [2][auch Lehrer:innen und Physiotherapeut:innen | |
wollen streiken.] Und am 9. Januar wollen die Assistenzärzte darüber | |
abstimmen, ob sie für höhere Gehälter und bessere Arbeitsbedingungen | |
streiken. Die Wahrscheinlichkeit, dass es ein Votum für Streik wird, ist | |
groß. | |
Noch scheint die Regierung beim harten Kurs zu bleiben und will weiterhin | |
nicht über höhere Gehälter verhandeln. Premierminister [3][Rishi Sunak] gab | |
an, das Wichtigste sei die Bändigung der Inflation. In seiner | |
Neujahrsansprache warnte er angesichts von Wirtschaftskrise, Inflation und | |
Rezession vor einem schwierigen neuen Jahr. Der Premierminister behauptete | |
zudem, die Regierung habe mit ihren Entscheidungen dafür gesorgt, dass es | |
vor allem ärmeren Menschen besser gehe. | |
2 Jan 2023 | |
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## AUTOREN | |
Daniel Zylbersztajn-Lewandowski | |
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