| # taz.de -- Streiks in Großbritannien: Nichts geht mehr | |
| > Großbritannien droht erneut im Chaos zu versinken. Nicht nur wegen der | |
| > massiven Streikwelle im Gesundheits- oder Postwesen. | |
| Bild: Fordern nach zehn Jahren Stagnation eine Gehaltserhöhung: streikende Kra… | |
| Krankenpfleger mit [1][Bannern vor britischen Krankenhäusern], streikender | |
| Notdienst, das britische Bahnverkehrsnetz lahmgelegt, hohe Berge von nicht | |
| abgefertigten Paketen in den Postzentralen – und demnächst wohl auch | |
| längere Schlangen bei den Grenzkontrollen, alles aufgrund von Streiks. | |
| Das ist das neue Bild von Chaos „Made in Britain“. Und all das hat | |
| vielleicht schon Tradition. Man erinnere sich an das Chaos der Regierung | |
| [2][aufgrund von Partygate], das Chaos in den übervollen britischen | |
| Krankenhäusern zu Beginn der Pandemie 2020, das Chaos an den Tankstellen | |
| aufgrund von überspitzt dargestellten Gerüchten über den Mangel an Fahrern, | |
| das Chaos an den Grenzübergängen kurz nach dem Brexit, die leeren Regale in | |
| den Supermärkten und nicht zuletzt das [3][Börsenchaos nach dem | |
| „Minihaushalt“ der Regierung Truss]. | |
| Im Hintergrund von all dem stehen die gestiegenen Lebenserhaltungskosten in | |
| Kombination mit der Inflation und den gestiegenen Energiekosten. Doch der | |
| Premierminister Rishi Sunak und sein Finanzminister Jeremy Hunt glauben | |
| nach dem Absägen des Truss-Kwarteng-Duos, wieder „verantwortliche Politik“ | |
| zu betreiben, mit einer die Inflation bremsenden Wirtschaftspolitik und | |
| staatlichen Hilfen, um Energiekosten zu verringern. | |
| Anderes kann nicht so schnell gerichtet werden, etwa der wirtschaftliche | |
| Schaden des Brexits mit 15 Prozent weniger Import und Export inklusive | |
| entsprechender Verluste. Seit 2012 sind die Torys an der Macht und wollen | |
| das Königreich aufbessern. Bis 2019 hieß das vor allem die Einführung einer | |
| Sparpolitik und das Senken der Arbeitslosenzahlen. Dann wollte Boris | |
| Johnson mit dem Brexit abgehängte Regionen im Land mit großen Beträgen | |
| wiederaufbauen. | |
| ## Geld reicht nicht mehr | |
| Doch Covid-19 und Wladimir Putin machten dem einen Strich durch die | |
| Rechnung. Mit Milliardenbeträgen wurde das Volk durch die Pandemie | |
| gefüttert. Trotzdem reicht vielen Brit:innen heute das Geld nicht mehr. | |
| Im Oktober 2021 war der Prozentsatz der britischen Bevölkerung, die | |
| Lebensmitteltafeln und ähnliche Hilfsprogramme in Anspruch nehmen mussten, | |
| auf 11 Prozent angestiegen. Andere traf dieses Jahr der gestiegene | |
| Leitzins, der die Rückzahlung von Hypotheken verteuert hat. In | |
| Großbritannien sind das viele, denn Wohlstand ist im Vereinigten Königreich | |
| auf den Besitz eines Eigenheims gebaut. | |
| Dazu kamen [4][die Steuererhöhungen Rishi Sunaks], sowohl als | |
| Finanzminister und heute als Premierminister gemeinsam mit dem | |
| Finanzminister Jeremy Hunt. Diese sind so hoch wie seit dem Zweiten | |
| Weltkrieg nicht mehr. Laut dem britischen Prüfamt des Staatshaushalts (OBR) | |
| werden Brit:innen erst im Jahr 2027 durchschnittlich wieder so viel | |
| verdienen wie 2008. | |
| ## Nicht nur Lohnfragen | |
| Kein Wunder also, dass etwa Pflegepersonal angibt, es ginge ihnen beim | |
| Streiken nicht nur um die durch die Inflation (derzeit bei 10,7 Prozent) | |
| verursachten Verluste, sondern auch um nicht ausreichende Gehaltserhöhungen | |
| in den letzten zehn Jahren. Typisch britische Probleme gibt es auch in | |
| anderen Bereichen. Bahnstrecken sind in Großbritannien bis auf das | |
| Schienennetz privatisiert. Das führte zu einem Mangel an Investitionen. | |
| Auch hier geht es den Streikenden, genauso wie bei der privatisierten Post | |
| Royal Mail, nicht nur um Lohnfragen, sondern auch um die Konsequenzen | |
| notwendiger Modernisierung, die Arbeitsplätze vernichten. Wobei der | |
| Bahngewerkschaftsführer Mick Lynch behauptet, es ginge eher um Sicherheit | |
| und Dienste, für die etwa mitfahrende Schaffner sorgen könnten. Sunak und | |
| Hunt geben sich gegenüber den Streikenden hart und kompromisslos. Aus ihrer | |
| Sicht sind die Forderungen nach höheren Löhnen eine weitere | |
| Inflationsgefahr, die sich das Land nicht leisten könne. | |
| ## Streiks sollen ausgeweitet werden | |
| Gewerkschaften wollen hingegen ihre Streiks nicht nur intensivieren, | |
| sondern auch ausweiten – es kommen immer mehr Berufssparten hinzu. Im | |
| Januar wollen Lehrer:innen zwei Tage lang die Arbeit niederlegen. Unter | |
| den Torys fordern inzwischen Abgeordnete aus 2019 von Labour eroberten | |
| Wahlkreisen zur Kompromissbereitschaft auf. Der Labourparteichef Keir | |
| Starmer behauptet andererseits, die Streiks seien nicht seine Aufgabe, und | |
| verbot seiner Fraktion, zu den Streikenden Stellung zu beziehen. Der | |
| Gründungszweck der Arbeiterpartei, Gewerkschaftsinteressen, sprich | |
| streikende Arbeiter:innen im Parlament zu vertreten, ist der Hoffnung | |
| auf bessere Chancen bei Wahlen geopfert worden. | |
| Noch hält die Fraktion zusammen, doch das derzeit unterdrückte | |
| sozialistische Lager bei Labour trifft sich entsprechend offen mit | |
| Streikenden. Ex-Parteiführer Jeremy Corbyn, aus der Fraktion weiterhin | |
| ausgeschlossen, lässt sich dabei besonders gerne blicken. Da es bei Streiks | |
| in England keine minimale Dienstverpflichtung in systemrelevanten | |
| öffentlichen Diensten gibt, ist das Land schwer getroffen. Fast möchte man | |
| meinen, es gefällt britischen Menschen, sich das Leben schwerer zu machen. | |
| Die Frage ist nur, wer ist der Hauptverantwortliche hier? Gott sei Dank | |
| gibt es für die Schuldzuweisung noch die Flüchtlinge, die den Ärmelkanal | |
| auf kleinen Booten überqueren. Auch das führte bekanntlich zu Chaos, etwa | |
| in den Aufnahmezentren. Ein Cartoon in der Times zeigte neulich die Cliffs | |
| of Dover mit den Zeilen: „Keine Züge, keine Krankenpflege, kein Notdienst … | |
| wollt ihr immer noch kommen?“ | |
| 21 Dec 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Daniel Zylbersztajn-Lewandowski | |
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