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# taz.de -- Expertin über Zuwanderung ins Königreich: „Großbritannien hat …
> Die Zuwanderung ist trotz Brexit stark gestiegen. Migrationsexpertin
> Sumption erklärt, wie sich das auf den Wettbewerb um Fachkräfte auswirkt.
Bild: Pflegekräfte streiken in London
taz: Frau Sumption, den britischen Migrationsstatistiken zufolge hat der
Brexit die Zuwanderung nach Großbritannien nicht gestoppt, im Gegenteil.
Ist das auch Ihre Wahrnehmung?
Madeleine Sumption: Der Brexit hat die Zuwanderung aus der EU verringert.
Aber dies wurde durch verstärkte Zuwanderung aus anderen Ländern mehr als
ausgeglichen.
Ist das ein Brexit-Effekt?
Nicht wirklich. Wenn wir das Jahr 2019, das letzte Jahr vor dem Brexit und
auch vor der Pandemie, mit 2022 vergleichen, ist der größte Anstieg der in
der humanitären Zuwanderung aus der Ukraine und Hongkong. Diese
Migrantenkategorien gab es damals noch nicht. Die erleichterte Einreise aus
der Ukraine ist natürlich keine Brexit-Folge und die Regelung zur
erleichterten Einreise aus Hongkong ist auch nicht Teil der neuen
Zuwanderungsregelungen, die an die Stelle der EU-Freizügigkeit getreten
sind. Diese regeln die Zuwanderung von Arbeitskräften, und hier kommen vor
allem mehr Facharbeiter. Viele sind Arzt- und Pflegepersonal. Sie wären
auch unter dem alten System einwanderungsberechtigt gewesen. Ihre Zahlen
steigen, weil die Nachfrage im NHS (National Hearth Service,
Großbritanniens staatliches Gesundheitssystem) steigt.
Zugleich sollen viele EU-Bürger, die im NHS arbeiteten, das Land verlassen
haben …
Ja, aber die Personalkrise des NHS hat damit wenig zu tun. Sie liegt vor
allem daran, dass immer mehr Mitarbeiter im Gesundheitsdienst kündigen. Der
NHS hat sich immer weitaus stärker auf Nicht-EU-Bürger als auf EU-Bürger
verlassen; der Zeitraum von 2012 bis 2015, als viele EU-Bürger zur Arbeit
im NHS nach Großbritannien kamen, war eine Anomalie und endete mit dem
Brexit-Referendum. Ja, es gibt EU-Bürger, die Großbritannien verlassen,
aber viele wären sowieso gegangen, denn nicht jeder Arbeitsmigrant bleibt
für immer, und im Gesundheitswesen gibt es auch viele Briten, die nach ein
paar Jahren kündigen. Aber all dies ist nicht zu vergleichen mit der Anzahl
von Nicht-EU-Bürgern, die mit Arbeitsvisa für Gesundheit und Pflege kommen.
Das liegt daran, dass der NHS expandiert, zum einen um die
Pandemierückstände aufzuarbeiten und dann auch aus politischen Gründen: Die
Konservativen versprachen bei ihrem Wahlsieg 2019 50.000 zusätzliche
Vollzeitpflegekräfte und die kann man nicht kurzfristig im eigenen Land
rekrutieren, da man dafür ausgebildete Fachkräfte braucht. Für einen
schnellen Ausbau des Gesundheitswesens benötigt man Zuwanderung, und darauf
hat sich Großbritannien immer verlassen. Der NHS hat einen enormen
Verschleiß an Arbeitskräften und es gibt nicht genügend ausgebildete Briten
dafür.
Hat der Brexit das erleichtert? Wird es durch den Wegfall der EU-Regeln
leichter, weltweit Arbeitskräfte anzuwerben?
Bei Ärzten und Krankenpflegern ist es nicht leichter geworden. Eine
spürbare Liberalisierung gibt es in der Altenpflege und der häuslichen
Pflege. Anders als zu EU-Zeiten sind diese Sektoren jetzt für die
Zuwanderung mit Arbeitsvisa geöffnet, und 10.000 bis 15.000 Zuwanderer
kommen jährlich in diesem Bereich ins Land – keine schlagzeilenträchtige
Zahl, aber ein Teil des Anstiegs.
Früher gab es in Großbritannien viele Menschen aus Osteuropa in der
häuslichen Pflege, auch aus Italien und Spanien. Sind sie in ihre
Heimatländer zurückgekehrt?
Es gibt dazu keine genauen Zahlen, aber es gibt anekdotische Angaben
darüber, dass häusliche Pflegekräfte aus Ländern wie Ungarn und Rumänien
sechs Wochen blieben und dann wieder nach Hause gingen. Das war innerhalb
der EU-Freizügigkeit möglich und geht heute nicht mehr, da man für ein
Arbeitsvisum bei einer Institution oder einem Unternehmen angestellt werden
muss, nicht in einem Privathaushalt. Aber typischerweise werden diese
Rollen sowieso mehr von Nicht-EU-Bürgern ausgefüllt. Dass EU-Bürger das
eine Zeitlang ohne Formalitäten machen konnten, hat das Grundproblem in der
häuslichen Pflege nur übertüncht – die schlechte Bezahlung im Vergleich zu
anderen Dienstleistungsbranchen.
Der britische Unternehmerverband CBI sagt, wir brauchen mehr Zuwanderung.
Premierminister Rishi Sunak und Labour-Chef Keir Starmer plädieren für
Einschränkung und bessere Arbeitsbedingungen für einheimische
Arbeitskräfte. Wie sehen Sie diese Debatte? Stimmt es denn, dass es einen
Arbeitskräftemangel gibt, der durch Zuwanderung ausgeglichen werden muss?
Ich würde der Darstellung, dass Großbritannien mehr Arbeitskräfte braucht
und die Politiker sich dem widersetzen, nicht uneingeschränkt folgen. Unter
Ökonomen ist strittig, ob Großbritannien mehr schlecht bezahlte
Arbeitskräfte braucht. Zuwanderung bringt am meisten, wenn es qualifizierte
Arbeitskräfte sind. Mehr ungelernte Arbeitskräfte etwa im
Gaststättengewerbe bedeuten, dass das Gaststättengewerbe wächst, aber der
Wohlstand von Großbritannien hängt nicht von der Anzahl von Cafés ab. Zu
EU-Zeiten war es für Arbeitgeber einfach, Billigarbeitskräfte zu
rekrutieren, aber der Volkswirtschaft nützte das wenig. Wenn das wegfällt,
werden zwar nicht unbedingt mehr ungelernte Briten angeheuert, sondern die
Arbeitsplätze fallen weg und der betroffene Sektor wächst langsamer, aber
das hat auch kaum volkswirtschaftliche Auswirkungen.
Kehren wir zu den Facharbeiten zurück. Gibt es da nicht ein Problem des
Braindrain, wenn man hochqualifizierte Kräfte aus aller Welt nach
Großbritannien holt?
Im Technologiebereich ist es eher von Vorteil, wenn gut ausgebildete
Menschen weltweit unterwegs sind. Die Fachkräfte, die jetzt nach
Großbritannien kommen, bleiben größtenteils nur wenige Jahre. Es gibt mehr
globale Bewegung und das kann den Herkunftsländern nützen. Im
Gesundheitsbereich sieht es anders aus, obwohl das nicht immer so klar ist.
Manche Länder, wie die Philippinen, haben eine offizielle Politik,
Pflegekräfte zu exportieren. Sie sehen das als Exportmarkt. Manche
Betroffenen hätten nie eine Pflegeausbildung erhalten, wenn am Ende nicht
die Chance auf Auswanderung stünde. Aber es gibt auch Länder, die ihr
Gesundheitspersonal gerne halten möchten und es nicht können. Die WHO hat
dafür einen Kodex, den auch Großbritannien unterschrieben hat …
Die rote Liste von Ländern, in denen man nicht aktiv Arbeitskräfte anwerben
darf?
Ja, genau. Und auf dieser Liste steht Nigeria. Aber Nigeria ist zugleich
eines der wichtigsten Herkunftsländer für Zuwanderer im NHS! Das britische
NHS darf nicht in Nigeria aktiv Arbeitskräfte anwerben, aber Nigerianer
können sich einfach online beim NHS bewerben. Für Nigeria insgesamt ist das
schlecht. Aber sollte Großbritannien Menschen diskriminieren, weil sie von
sich aus Arbeit suchen?
Aber am Ende fehlt das Personal in den Herkunftsländern, egal auf welchem
Weg es nach Großbritannien ausgewandert ist. Hat Großbritannien durch den
Brexit nun in diesem Bereich einen Vorteil gegenüber Deutschland? Beide
brauchen dringend Arbeitskräfte.
Ich denke, Großbritannien hat Vorteile, aber nicht wegen des Brexits. Es
geht darum, dass hier Englisch gesprochen wird und das englische
Bildungssystem weltweit begehrt ist, es gibt viele Auslandsstudenten, alte
koloniale Verbindungen, Netzwerke von Generationen früherer Migranten.
Trotz Brexit behält Großbritannien seinen Ruf als Land mit
Willkommenskultur. Es ist aber nicht so, dass Großbritannien jetzt
Freiheiten hat, die Deutschland als EU-Mitglied fehlen.
Gibt es vielleicht in EU-Ländern Vorurteile gegen Großbritannien?
Lastwagenfahrer beispielsweise sagen mir, für sie sei Großbritannien nicht
mehr so attraktiv wie früher.
Sicher ist Großbritannien jetzt weniger attraktiv für EU-Bürger. Manche
denken, sie seien nicht mehr willkommen, es gibt auch das politische Umfeld
und den Wechselkurs. Und natürlich macht es einen Unterschied, wenn man
nicht mehr einfach so einreisen und arbeiten kann, bloß mit dem Reisepass
ohne Visum, sondern zur Arbeitsaufnahme einen Antrag stellen muss und an
einen Arbeitgeber gebunden ist, es ist alles bürokratisch und teuer.
Arbeitsvisa gibt es für Fachkräfte, aber nicht für Ungelernte; Ausnahmen
etwa im Bausektor werden kaum genutzt.
Sie sagten, die jüngste Zunahme der Zuwanderung liege vor allem an Hongkong
und der Ukraine. Wenn diese Ausnahmesituationen enden, werden dann auch die
Zahlen sinken und die politische Debatte sich beruhigen?
Wahrscheinlich schon, aber es wird dauern. Denn es gibt auch viel mehr
Auslandsstudenten als früher.
Wieso?
Manches liegt am Ende der Covidpandemie, während der es vor allem
Fernstudium gab oder Kurse verschoben wurden; jetzt ist wieder Präsenz
angesagt. Und das Studium in Großbritannien scheint einfach attraktiver
geworden zu sein. Vielleicht macht es der gesunkene Wechselkurs billiger,
vielleicht liegt es an der Möglichkeit, an das Studium ein Arbeitsvisum
anzuschließen und noch im Land zu bleiben, um Geld zu verdienen. Das nutzen
besonders viele Studierende aus Indien und Nigeria. Das wird sich in zwei
oder drei Jahren bemerkbar machen.
3 Jan 2023
## AUTOREN
Daniel Zylbersztajn-Lewandowski
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