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# taz.de -- Die Wahrheit: Der gestohlene Goldtaler
> Die Wahrheit-Weihnachtsgeschichte: Zwei liebe Geschwister, ein
> Geheimversteck und ein Kinderspalter. Der Sechsteiler zum Fest.
## I. Der Kinderspalter
Rofos hatte links eine Zahnlücke und rechts eine Augenklappe. Er konnte
lügen und betrügen wie ein Weltmeister. Er wusste alles über Holzwürmer und
Giftkräuter. Er kannte auch sämtliche Arten, mit dem Messer umzugehen. Und
mit dem Kinderspalter, obwohl er den lange nicht mehr benutzt hatte.
Sein verfilzter Zauselbart hatte eine beachtliche Länge, er maß schon mehr
als einen Meter. Außerdem trug er einen schwarzen, stinkenden Schlapphut.
Ein heiseres Kichern entrang sich seiner Kehle, und das war nicht schön
anzuhören. Es klang wie eine Mischung aus einem herabfallenden Zinkeimer
voller rostiger Nägel und einem Geräusch, als würde ein Bösewicht auf
zerbrochenem Glas herumkauen.
Rofos verspeiste einen rohen Fisch, der etwas muffelte. Dann betrachtete er
die Waren in seinem windschiefen Bauchladen: tote Motten, zerrissene
Schnürsenkel, kaputte Brillengläser, bräunliche Fingerknöchelchen,
zerfledderte Putzlumpen und gebrauchte Läusekämme. Alles Überbleibsel aus
seiner bewegten Zeit als fahrender Raubmörder, die er auf der
Weihnachtskirmes vor der Dorfkirche verhökern wollte.
Sein Blick glitt die düster-feuchten Höhlenwände entlang, die in allen
Farben ungesund fluoreszierend schimmerten. Hier hatte er all seine
Reichtümer angenagelt: Einmachgläser voller Augen, faulende Äste, zuckende
Dinge, einen klagenden Grottenolm und seinen größten Schatz, ein – Rofos
erstarrte … Dann verzog sich sein schwarzes Gesicht zu einer wütenden
Fratze und sein wildes Wutgeheul durchdrang den Wald so gräulich, dass alle
Tiere vor Schreck umfielen oder von den weihnachtlich geschmückten Bäumen
plumpsten …
## II. In der Scheune
Peterchen und Annelieschen waren vor Aufregung seit Stunden wach. So still
es nur ging, schlichen sie sich aus ihrer Dachkammer die knarrenden Stufen
der Holztreppe hinab. Draußen war es noch dunkel, nur die Sterne spendeten
ein sanftes Licht, das die verschneiten Tannenbäume in einen
geheimnisvollen Glanz bettete und wie von tausend Kerzen erstrahlen ließ.
Leise öffneten die Geschwister die Haustür und huschten über den Hof zur
Scheune. Über dem noch schlafenden Dorf ruhte ein betörender Duft von
Glühwein, Bratäpfeln, Spekulatius und gesottenem Fleisch. Lutz, das
Kettenlamm, hob nur kurz eine Augenbraue, erkannte aber sogleich die lieben
Kinder und zog sich wieder in seine wohligen Träume von lustig
umhertanzendem Lametta zurück.
Peterchen und Annelieschen huschten zu ihrem Geheimversteck, in dem sie das
Goldstück verbargen. Berthold, der alte Ochse, und André, der Esel,
schnauften. Andächtig öffneten die Kinder den kleinen Holzschrein, aus dem
es verheißungsvoll leuchtete. Das große Goldstück hatten sie im Wald
gefunden, am Eingang der Höhle, in der angeblich ein Monster mit einem
Kinderspalter hauste. Sie wollten noch einmal dorthin zurückkehren, um noch
mehr Gold zu holen. Wenn sie erst genug beisammenhätten, dann könnten sie
den Eltern die herrlichsten Weihnachtsgeschenke kaufen …
## III. Die Höhle
Rofos tobte wie ein tollwütiger Brummkreisel durch die Höhle. Wo, verdammt,
war sein Goldstück geblieben? Es lag nicht unter seinem Lager aus hart
gegerbten Tierhäuten, es hing nicht an der Decke bei den Fledermäusen und
es war sicher auch nicht in dem unheimlichen Loch, von dem Rofos nicht
wusste, wo es herkam und wie tief es war. Jemand hatte es gestohlen!
Wie von selbst wanderten seine Blicke weiter zum Kinderspalter, der in
einer fast vergessenen Ecke stand. Ein beunruhigendes Kribbeln ließ seinen
rechten Fuß unkontrolliert zucken, während sich in seinem Magen ein
grollendes Kollern zusammenbraute. Er hatte Hunger und Rachegelüste. Die
Silhouette seiner hageren Gestalt, die sich nun kohlpechrabenschwarz erhob,
zeichnete sich vor dem flackernden Lagerfeuer schemenhaft ab. Er schulterte
den Kinderspalter auf seinen Buckel und packte auch noch ein paar
Schlingfallen ein. Die Jagd konnte beginnen …
## IV. Das Käuzchen
Peterchen und Annelieschen stapften mutig durch den Wald. Noch war es tief
in der Nacht und durch die mächtigen Kronen der Bäume drang nicht einmal
der winzigste Sternenschein. Peterchen hatte für alle Fälle seine
Holzfletsche in der Schlafanzugtasche verstaut, und Annelieschen konnte,
wenn es drauf ankam, so ungeheuerlich kneifen, kratzen und an den Haaren
ziehen, dass niemand es selbst gern erleben würde.
Da fasste Peterchen Annelieschens Arm und flüsterte: „Riechst du das?“
Annelieschen rieb sich ungläubig die Nase und rief: „Was riecht denn da so
entsetzlich?“ Gleichzeitig hörten die Kinder ein bedrohliches Schnaufen,
Rascheln, Fluchen und Stolpern, dass es ihnen beinahe die Haare zu Berge
stehen ließ. Sogar das Dämmerungskäuzchen, das bisher unentwegt lauthals
„Stille Nacht“ gesungen hatte, verstummte. Instinktiv griff Peterchen zu
seiner Fletsche und Annelieschen feilte sich die Fingernägel spitz.
Da brach mit einem gewaltigen Krachen das dichte Unterholz auseinander,
während sich die schneeschweren Baumwipfel teilten und den Blick auf einen
am Himmelszelt vorbeifliegenden Kometen freigaben, dessen heller Schweif
die Szenerie in weiches und warmes Licht tauchte. Stumm blickten Rofos und
die Kinderlein einander in die schreck-, hass- und wutgeweiteten Augen.
Rofos brachte den Kinderspalter in Stellung, Peterchen lud seine Fletsche
mit den härtesten Tannenzapfen, die er auf die Schnelle finden konnte, und
Annlieschen hob drohend ihre Krallen …
## V. Der Engel
Völlig unerwartet schwebte plötzlich ein wunderschöner Engel herab, der mit
sanfter Stimme verkündete: „Euch ist ein Heiland geboren. Also reißt euch
am Riemen und vertragt euch. Wenigstens bis Weihnachten vorbei ist.“ Und
mit diesen weisen Worten verschwand er wieder in der Dunkelheit.
Nun sah man Peterchen, Annelieschen und Rofos einander glücklich weinend in
den Armen liegen – die frohe Kunde hatte ihre Herzen geöffnet. Die Kinder
kraulten den wohlig schnurrenden Rofos hinter den Ohren, wuschen ihm den
Bart und luden ihn an Heiligabend zu sich nach Hause ein. Ei, wie die
Eltern sich da freuten! Rofos verschenkte all sein Hab und Gut an den
Pastor und lebte fortan als angesehener Bürger in der Gemeinde. Es wurde
das schönste Weihnachtsfest, das das Dorf jemals erlebt hatte, und alle
wurden glücklich bis an das selige Ende ihrer Tage.
## VI. Ende
(In Wirklichkeit ging die weihnachtliche Geschichte ganz anders aus, doch
die Wahrheit ist so gräuslich und grässlich, dass sie uns nur die schöne
Festtagsstimmung verderben würde …)
24 Dec 2022
## AUTOREN
Corinna Stegemann
## TAGS
Märchen
Die Wahrheit
Kinder
Weihnachten
Münster
Die Wahrheit
Kolumne Die Wahrheit
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024
Fortsetzungsgeschichte
Thriller
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