| # taz.de -- Neue Aktienrente: Kapitalgedeckte Pleite | |
| > Die Aktienrente soll es nun richten – ein gefährlicher Irrweg: An der | |
| > Börse geht es nicht um Werte, sondern um Zukunftserwartungen und | |
| > Spekulation. | |
| Bild: Kurve im Fall | |
| Jetzt ist es so weit: 10 Milliarden Euro für die Aktienrente werden im | |
| Haushalt des kommenden Jahres bereitgestellt – und Finanzminister Christian | |
| Lindner sieht es nur als einen Anfang an und fordert bereits eine weitere | |
| Aufstockung der Summe. | |
| Die 10 Milliarden werden tatsächlich [1][auch im Koalitionsvertrag als ein | |
| erster Schritt angesehen]. Die Aufweichung des bisherigen Umlageverfahrens | |
| scheint kaum noch abzuwenden. Umlageverfahren bedeutet, dass die | |
| Rentenbeiträge der Arbeitnehmer für die aktuellen Renten verwendet werden. | |
| Die Aktienrente dagegen ist auf erfolgreiche Investitionen an der Börse | |
| angewiesen. | |
| Die Befürworter einer kapitalgedeckten Rente scheinen volkswirtschaftlich | |
| schlecht geschult zu sein. So formulierte schon 1952 der [2][Soziologe | |
| Gerhard Mackenroth]: „Nun gilt der einfache und klare Satz, dass aller | |
| Sozialaufwand immer aus dem Volkseinkommen der laufenden Periode gedeckt | |
| werden muss. Es gibt gar keine andere Quelle (…), es gibt keine Ansammlung | |
| von Periode zu Periode, kein ‚Sparen‘ im privatwirtschaftlichen Sinne, es | |
| gibt einfach gar nichts anderes als das laufende Volkseinkommen als Quelle | |
| für den Sozialaufwand (…). Volkswirtschaftlich gibt es immer nur ein | |
| Umlageverfahren.“ | |
| Mackenroths Befund passt auch zur heutigen Realität ganz hervorragend. Die | |
| Gesellschaft lebt immer von dem, was gerade produziert oder als menschliche | |
| Dienstleistung aktuell angeboten wird. | |
| Wir essen nicht das früher angesparte Brot, und Pflege und Kinderbetreuung | |
| gehen nur durch gerade Arbeitende. Das war schon immer so. Für gespartes | |
| Geld gibt es also nur Leistungen, wenn gerade genug Arbeit und deren | |
| Ergebnis angeboten wird. Geld kann man nicht essen. Insofern ist das | |
| Umlageverfahren der gesetzlichen Rente ganz natürlich. Die aktuell | |
| Arbeitenden versorgen die Alten, die Jungen, die nicht Arbeitenden und sich | |
| selbst. | |
| Warum also der Umweg über Kapitalansammlungen? Zunächst einmal, weil daran | |
| viele Firmen verdienen. Offensichtlich sind das Versicherungsunternehmen | |
| mit Produkten, bei denen teils nicht einmal die eingezahlten Gelder wieder | |
| ausgezahlt werden. Die nächste Gewinnergruppe sind die Unternehmer: Über | |
| die Auslagerung eines Teiles der Rente an die Privaten können sie sich aus | |
| der paritätischen Finanzierung verabschieden und ihren Beitragsanteil | |
| deckeln. Für jeden Prozentpunkt weniger in die Gesetzliche waren das mehr | |
| als 5 Milliarden Euro jährlich. Kein Wunder, dass sie für die private Rente | |
| getrommelt haben. | |
| Mangelnde volkswirtschaftliche Bildung vieler Politiker*innen | |
| erleichterte den Privatisierern der Rente das Geschäft. So kann man hohe | |
| private Renten versprechen, obwohl die gesamtwirtschaftliche Produktion | |
| nicht für eine vernünftige gesetzliche Rente ausreicht. Wenn die künftige | |
| arbeitende Generation zu klein ist, wer stellt die Güter für alle dann her, | |
| wer kauft Privatversicherungen oder die von den Versicherungen angesparten | |
| Wertanlagen? In einer Phase mit hohen Preisen für Immobilien, Boden, | |
| Geldanlagen und Aktien einsteigen, um in schlechten wirtschaftlichen Zeiten | |
| zu verkaufen, kann nur zum Verlust führen. | |
| Und jetzt soll es der Aktienmarkt richten? Klar verlockt der Blick auf die | |
| Entwicklung der vergangenen Jahre. Aber eine Aktienrente würde die | |
| Nachfrage nach Aktien und damit ihre Preise steigern – dabei sind diese | |
| Preise durch die lockere Geld- und Zinspolitik der Vergangenheit schon sehr | |
| hoch. Nur was passiert, wenn die Aktien für die Renten verkauft werden | |
| müssen? Die Preise rauschen in den Keller. Der scheinbare Ertrag der | |
| Vergangenheit ist dahin, wenn dieser im großen Stil am Aktienmarkt | |
| materialisiert werden soll. | |
| ## Spielfeld für Zocker | |
| Ein, zwei Tellerwäscher können zu Millionären aufsteigen, aber nicht ein | |
| paar Millionen. Wer glaubt, dass steigende Aktienwerte etwas mit | |
| gestiegenem Vermögen zu tun haben, möge sich den US-Elektroautobauer Tesla | |
| ansehen. An der Börse waren dessen Aktien Ende 2021 mit rund 970 Milliarden | |
| Dollar mehr wert als alle anderen großen Autokonzerne zusammen. Und das | |
| trotz niedriger Gewinne. Hier geht es nicht um Werte, sondern um | |
| Zukunftserwartungen und Spekulationen der Börsianer. Die Börse ist für | |
| Zocker ein Spielfeld, aber nicht für eine sichere, langfristig angelegte | |
| Rente. | |
| Die Schwächen kapitalgedeckter Rentensysteme aufzuzeigen ist natürlich | |
| einfach. Selbst die Befürworter geben vieles davon zu, verweisen deshalb | |
| gerne auf den Mangel an Alternativen. Dazu müssen sie [3][die gesetzliche | |
| Rente aber schlechtreden]. Und das tun sie fast unisono. Ja, die Ausgaben | |
| für die gesetzliche Rentenversicherung steigen ständig; aber nicht stärker | |
| als der gesellschaftliche Wohlstand. Im Jahr 2000 wurden etwas mehr als 10 | |
| Prozent des Bruttoinlandsprodukts dafür ausgegeben. Jetzt sind es knapp 10 | |
| Prozent – und das, obwohl sich die Zahl der Rentner*innen um gut 17 | |
| Prozent erhöht hat. | |
| Die gesetzliche Rente hat in dieser Zeit dem Anstieg der Lebenserwartung | |
| von 2,8 Jahren bei Frauen und 4,1 Jahren bei den Männern erfolgreich | |
| getrotzt. Und das, obwohl Verbesserungsmöglichkeiten bewusst nicht | |
| ergriffen wurden: Eine Erwerbstätigenversicherung (die auch Selbstständige | |
| und Beamte umfassen würde), eine höhere Beitragsbemessungsgrenze, moderat | |
| mit der wachsenden Wirtschaftsleistung steigende Beiträgssätze oder der | |
| Abbau von Niedriglohnsektor oder Arbeitslosigkeit ergäben viel Spielraum. | |
| Ein Blick nach Österreich mit seinen relativ hohen Renten und seiner | |
| trotzdem höheren Wirtschaftskraft pro Kopf zeigt diese Potenziale. | |
| Die gesetzliche Rentenversicherung hat in der Vergangenheit vielfältige | |
| Probleme überwunden, an denen kapitalgedeckte Systeme jämmerlich | |
| gescheitert wären: Erwähnt seien nur Wiedervereinigung und Finanzkrisen. | |
| Wir sollten das System nicht in Rente schicken, sondern ausbauen und gesund | |
| pflegen, statt die nächste kapitalgedeckte Pleite zu organisieren. | |
| Gerd Bosbach ist Rentenexperte und hat bis 2019 als Professor für | |
| Statistik und Empirische Wirtschafts- und Sozialforschung am RheinAhrCampus | |
| der Hochschule Koblenz gelehrt. | |
| 20 Dec 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Ampelkoalition-plant-Wertpapierrente/!5807215 | |
| [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Mackenroth-These | |
| [3] /SPD-und-die-Rentenreform/!5528315 | |
| ## AUTOREN | |
| Gerd Bosbach | |
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