# taz.de -- Ampelkoalition plant Wertpapierrente: Bald sind wir alle Aktionäre | |
> Im Sondierungspapier wurde die „Aktienrente“ der FDP übernommen. Ist es | |
> wirklich der beste Weg, die Altersvorsorge zu retten? | |
Bild: Von ihm stammt das Konzept der Aktienrente: Johannes Vogel, FDP | |
Die Ankündigung ist radikal. „Zur langfristigen Stabilisierung von | |
Rentenniveau und Rentenbeitragssatz werden wir in eine teilweise | |
Kapitaldeckung der Gesetzlichen Rentenversicherung einsteigen“, heißt es in | |
dem ansonsten recht schwammig formulierten [1][Sondierungspapier von SPD, | |
FDP und Grünen]. | |
Das Rentenprogramm der möglichen künftigen Regierung setzt also vor allem | |
auf mehr Markt. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik soll | |
das Umlageverfahren, bei dem aktuelle Beitragszahler für die Renten der | |
Bezieher aufkommen, erweitert werden durch eine Anlage auf dem | |
Kapitalmarkt. Da die Ampelverhandler auf Drängen der FDP Steuererhöhungen | |
ausgeschlossen haben und die SPD Rentenniveau und -eintrittsalter unbedingt | |
halten will, sollen also die Kapitalmärkte die Alterssicherung | |
stabilisieren – wenn auch zunächst mit Bundesmitteln. 10 Milliarden Euro | |
würde die Koalition für ihr Projekt im kommenden Jahr bereitstellen. | |
Ein substanzieller Betrag, der vor allem vor dem Hintergrund verwundert, | |
dass die FDP seit Jahren die Zuschüsse der Bundesregierung zur gesetzlichen | |
Rente – aktuell ca. 100 Milliarden Euro jährlich – als zu hoch moniert. | |
Dass die Freien Demokraten hier aber nicht davor zurückschrecken, viel Geld | |
in die Hand zu nehmen, liegt daran, dass die „Aktienrente“ eines ihrer | |
Lieblingsprojekte ist. Im Februar hat die Partei bereits [2][ein Konzept | |
dazu vorgelegt]. Und so lässt sich auch ohne genauere Details im | |
Sondierungspapier mutmaßen, was die Ampel vorhat. | |
## 2 Prozentpunkte werden angelegt | |
Das Konzept der beiden FDP-Bundestagsabgeordneten Johannes Vogel und | |
Christian Dürr sieht Folgendes vor: Vom Rentenbetrag – also den 18,6 | |
Prozent des Bruttolohns, die je zur Hälfte Arbeitnehmer und Arbeitgeber an | |
die Rentenversicherung abführen –, sollen künftig 2 Prozentpunkte in Aktien | |
und ähnliche Anlagen gesteckt werden. Man erhofft sich davon im Endeffekt | |
höhere Renten für die Beitragszahler, weil an der Börse höhere Zuwächse | |
erzielt werden. | |
Das Papier nennt Renditen „zwischen 8 und 10 Prozent – pro Jahr!“, die | |
beispielsweise zwanzigjährige Anlagen von DAX und MSCI World abgeworfen | |
hätten. Kein Arbeitnehmer müsse mehr Geld aufwenden als heute, gleichzeitig | |
werde die gesetzliche Säule der Rentenversicherung abgesichert und „gerade | |
Menschen mit geringen Einkommen würden erstmals von den Chancen der | |
globalen Aktienmärkte profitieren“. | |
So weit die Idee, die übrigens auch von der Verbraucherzentrale unterstützt | |
wird und seit der Jahrtausendwende in Schweden praktiziert wird. Doch die | |
Aktienrente hat ihre Tücken. Zunächst einmal sind die Aktienmärkte | |
Schwankungen unterworfen. Allein in den vergangenen 13 Jahren hat es zwei | |
größere Finanzkrisen gegeben, die die Wertpapiere in den Keller schickten. | |
Aktienbasierte Pensionsfonds, die 2010 ausliefen, vermeldeten nach der | |
Finanzkrise 2008 teils Verluste [3][von mehr als 40 Prozent]. | |
Allerdings erholten sich – genau wie nach der aktuellen Coronakrise – die | |
Märkte wieder. Langfristig steigen Werte seit Jahrzehnten recht | |
verlässlich. Das gilt vor allem für Investments in breit gestreute Fonds, | |
die Krisen in einzelnen Ländern und Branchen abfedern können. Das Risiko | |
eines globalen und dauerhaften Crashs kann dennoch nicht ausgeschlossen | |
werden. | |
Zudem ist zweifelhaft, ob tatsächlich vor allem geringe Einkommen | |
profitieren. Denn natürlich erzielen bei einer verpflichtenden Aktienrente, | |
bei der 2 Prozent des Gehalts angelegt werden, Gutverdiener hohe Gewinne. | |
Niedriglohnbeschäftigte, die nur wenig einzahlen können, dürften nur | |
geringe Gewinne erhalten. | |
## Politisch instrumentalisieren | |
Gleichzeitig könnte eine Aktienrente sich kritisch auf die politische | |
Debatte auswirken. Wenn die eigene Rente von den Entwicklungen der | |
Aktienmärkte abhängig wird, ließe sich das politisch instrumentalisieren: | |
Gegner von höheren Unternehmensteuern könnten dann argumentieren, dass | |
derartige Maßnahmen Aktienwerte und damit die Rente selbst von | |
Geringverdienern gefährdeten. | |
Ein Beispiel ist der Wahlkampf des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump. | |
Dieser warnte 2020 in einem Tweet, dass die Aktienwerte und 401k (so der | |
Name einer finanzmarktbasierten Altersvorsorge in den USA) „verschwinden“ | |
würden, wenn die „radikale Linke“ und der „korrupte Joe Biden“ erhebli… | |
Steuererhöhungen durchsetzen. | |
Doch ist eine Aktienrente überhaupt notwendig? Im FDP-Papier heißt es: „Die | |
demografische Entwicklung droht, die Leistungsfähigkeit unseres | |
Sozialstaats schon bald massiv einzuschränken.“ Allerdings ist umstritten, | |
ob es wirklich so schlecht um die gesetzliche Rente bestellt ist. | |
Zunächst einmal reflektiert der dreistellige jährliche Milliardenzuschuss | |
vom Bund nur zum Teil eine Schieflage zwischen Beitragszahlern und | |
Empfängern. Finanziert werden mit dem Zuschuss auch sogenannte | |
versicherungsfremde Leistungen. [4][Darunter fallen zum Beispiel] | |
Rentenbeiträge für Kindererziehungszeiten, die 2019 15,4 Milliarden Euro | |
ausmachten, aber auch Transfers in die neuen Bundesländer (5,6 Milliarden). | |
Der Zuschuss zur allgemeinen Rentenversicherung selbst betrug 2019 72,3 | |
Milliarden Euro. | |
## Alternativen | |
Wollte man diese Finanzierungslücke schließen, kämen auch andere Maßnahmen | |
infrage, die aber im Gegensatz zur Aktienrente einen stärkeren | |
Umverteilungscharakter hätten. So könnte man die Beitragsbemessungsgrenze | |
anheben, also den Punkt, ab dem für höhere Einkommen der Rentenbeitrag | |
nicht mehr mit dem Einkommen steigt (ab 2022 84.600 Euro Jahresgehalt). | |
Denkbar wäre auch die Einbeziehung von Beamten in die gesetzliche | |
Rentenversicherung. | |
Die Rentendebatte bezieht sich zudem seit einigen Jahren hauptsächlich auf | |
die Frage der Generationengerechtigkeit: Wegen der zunehmenden Zahl an | |
Rentnern müssten immer weniger Arbeitnehmer für immer mehr Rentner | |
aufkommen. Allerdings verschiebt sich das Verhältnis zwischen Menschen im | |
Erwerbsalter und Senioren bereits seit Jahrzehnten – und dennoch ist die | |
gesetzliche Rente bisher nicht kollabiert, weil der Alterung die steigende | |
Produktivität der Arbeitnehmer und höhere Löhne gegenüberstehen. Mit | |
moderaten Produktivitätssteigerungen könnte – etwa laut den Berechnungen | |
des Statistikers Gerd Bosbach – die gesetzliche Rente auch in den kommenden | |
Jahrzehnten stabil bleiben. | |
Höhere Einnahmen für die Rentenkasse wären außerdem möglich: Wenn vor allem | |
Geringverdiener besser bezahlt würden, gäbe es auch höhere Einnahmen für | |
die Rente und Arbeitnehmer hätten selbst im Falle von steigenden | |
Rentenbeiträgen mehr Geld zur Verfügung. Eine alternative Strategie wäre | |
zudem, die Erwerbstätigkeit bei Frauen und Älteren zu erhöhen. Diese | |
Vorschläge finden sich übrigens auch teilweise im Sondierungspapier. Würden | |
sie umgesetzt, müsste eine Aktienrente also gar nicht unbedingt sein. | |
22 Oct 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www1.wdr.de/nachrichten/sondierungspapier-100.pdf | |
[2] https://www.fdpbt.de/sites/default/files/2021-02/210215_Duerr_Vogel_Gesetzl… | |
[3] https://www.cnbc.com/2018/09/13/these-retirement-funds-took-a-beating-in-20… | |
[4] https://www.sozialpolitik-aktuell.de/files/sozialpolitik-aktuell/_Politikfe… | |
## AUTOREN | |
Jörg Wimalasena | |
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