| # taz.de -- Tausende protestieren in Peking: „Keine PCR-Tests, sondern Freihe… | |
| > Auch in Chinas Hauptstadt sind in der Nacht zu Montag Menschen durch die | |
| > Straßen gezogen. Der Protest hat eine neue Dimension erreicht. | |
| Bild: Seltene Bilder des Protestes: Peking am 27. November | |
| Peking taz | Es ist bereits weit nach Mitternacht, doch die Menschen wollen | |
| weiter in der Pekinger Novemberkälte ausharren. Sie haben sich zu Tausenden | |
| nahe des Liangma-Fluss versammelt, nur einen Steinwurf vom | |
| Botschaftsviertel entfernt. Unter den wachsamen Augen dutzender Diplomaten | |
| und Korrespondenten erheben sie ihre Stimme, die aufgrund von Repressionen | |
| und Zensur lange Zeit stumm blieb. | |
| „China ist ein Land, keine Partei“, schreit eine Frau inbrünstig in die | |
| Menge. Sie trägt keine Maske, dutzende der anrückenden Polizisten – manche | |
| in Uniform, manche in Zivil – blicken ihr direkt in die Augen. Doch die | |
| Chinesin lässt sich nicht einschüchtern. Nur ein paar Meter entfernt stimmt | |
| nun ein weiterer Demonstrant, der auf eine Steinmauer geklettert ist, unter | |
| dem Jubel von hunderten Menschen an: „Das Land gehört unserem Volk, nicht | |
| ihnen!“ | |
| Damit ist unmissverständlich jene Parteiführung gemeint, die seit der | |
| Pandemie weniger denn je bereit ist, ungewollte Meinungen zuzulassen. Das | |
| gesamte Jahr 2022 wurde in fast allen chinesischen Städten von rigiden | |
| Lockdowns und schikanierenden Coronabeschränkungen dominiert. | |
| Deren tragische Folgeschäden betrafen nahezu alle Chinesen, wenn auch in | |
| unterschiedlicher Härte. Doch die Zensur versuchte mit immer brachialeren | |
| Methoden, sämtliche Stimmen aus dem öffentlichen Diskurs auszuradieren, die | |
| von der Scheinidylle der offiziellen Propaganda abgewichen sind. Unter der | |
| Oberfläche jedoch brodelte es bereits seit Längerem. | |
| „Was in den letzten 24 Stunden passiert ist, ist insofern neuartig, als | |
| dass Demonstranten in mehreren Städten auf die Straße ziehen und | |
| offensichtlich voneinander wissen, was in anderen Teilen des Landes | |
| passiert“, kommentiert William Hurst, Politikwissenschaftler an der | |
| renommierten Cambridge-Universität. | |
| Bisher gab es seit dem Tiananmen-Massaker von 1989 in China vor allem lokal | |
| begrenzte Proteste – etwa gegen unmenschliche Arbeitsbedingungen in | |
| einzelnen Fabriken oder gegen die Inkompetenz einer Kommunalbehörde. | |
| Diesmal jedoch ist der Dissens breiter und hat praktisch das gesamte Land | |
| erfasst. | |
| ## Der „Bridge Man“ gab den Startschuss | |
| Am 13. Oktober gab der sogenannte „Bridge Man“ dem Frust der Chinesen | |
| erstmals ein Gesicht. Er zog, mit einer orangefarbenen Arbeitsweste als | |
| Bauarbeiter getarnt, auf die vielbefahrene Sitong-Brücke in Peking, um dort | |
| riesige Spruchbänder an dem Geländer anzubringen: „Wir wollen Bürger sein, | |
| keine Sklaven“ stand auf einem der Banner geschrieben. Viele dachten, es | |
| handele sich um den einsamen Protest eines Verzweifelten, der nun für den | |
| Rest seines Lebens verstummen wird – in einer Zelle, anschließend | |
| Hausarrest. | |
| Doch in der Nacht auf diesen Montag erklangen seine Slogans mitten im | |
| Pekinger Chaoyang-Bezirk lauter denn je. „Wir wollen keine PCR-Tests, wir | |
| wollen Freiheit“, schreit die Menge immer wieder. Dass sie sich | |
| ausgerechnet hier versammelt haben, wo die meisten Korrespondenten wohnen | |
| und die Botschaften angesiedelt sind, ist kein Zufall: Die | |
| Weltöffentlichkeit schaut gebannt auf jene mutigen Pekinger, die erstmals | |
| seit mehreren Jahrzehnten ihren Protest auf die Straße tragen. | |
| Die Polizei scheint in dieser Nacht zumindest die Zeichen der Zeit erhört | |
| zu haben. Sie umzingelt zwar die Demonstranten, separiert die Massen in | |
| kleinere Gruppen. Doch sie wendet keine physische Gewalt an und scheint | |
| auch vor Verhaftungen zurückzuschrecken – wohl auch, weil die Leute keine | |
| direkte Kritik an Xi Jinping persönlich äußern. | |
| ## „We don't need no thought control“ | |
| Anders hingegen [1][in Schanghai, wo sich die wütenden Chinesen am Sonntag | |
| zum zweiten Mal in Folge in der ehemals französischen Konzession versammelt | |
| haben]. Die Polizisten hatten bis zum Nachmittag bereits einen riesigen Bus | |
| mit Festgenommenen gefüllt. Auch ein BBC-Journalist wurde abgeführt, | |
| verprügelt und erst nach Stunden wieder freigelassen: Die Misshandlung von | |
| Edward Lawrence stellt einen neuen Tiefpunkt im Umgang des chinesischen | |
| Sicherheitsapparats mit ausländischen Reportern dar. Diese tun schließlich | |
| nichts weiter, als ihrer Arbeit nachzugehen. | |
| Bislang ist noch nicht abzusehen, wie ausdauernd der [2][Zorn der | |
| chinesischen Volksseele] sein wird. Doch es scheint, als ob seit dem | |
| Wochenende ein Damm gebrochen ist: Der Mut einiger weniger inspiriert viele | |
| weitere, es ihnen gleichzutun. Die chinesische Jugend hat zwar schmerzhaft | |
| lernen müssen, dass ein Einzelner in diesem System nicht viel ausrichten | |
| kann. Doch nun erfährt sie, dass man gemeinsam vereint eine mächtige Stimme | |
| hat. | |
| Millionen von ihnen posten plötzlich in einer bisher nie dagewesenen | |
| Geschwindigkeit kritische Videos auf den sozialen Medien, dass die Zensoren | |
| kaum mehr nachkommen. Dabei sind auch Liedzeilen von Pink Floyd zur Hymne | |
| derjenigen geworden, die sich keine Bevormundung der Partei mehr wünschen: | |
| „We don't need no education, we don't need no thought control.“ | |
| Die offiziellen Staatsmedien versuchen bereits ihre alten Rezepte | |
| anzuwenden: Sie sprechen von „ausländischen Kräften“, die die | |
| Demonstrationen organisieren würden, oder tun die dutzenden Proteste im | |
| ganzen Land als eine „fehlgeleitete Minderheit“ ab. Doch viele Chinesen | |
| haben das perfide Spiel der staatlichen Propaganda längst durchschaut: Sie | |
| wollen auch am Montag wieder auf die Straße ziehen. | |
| 28 Nov 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Fabian Kretschmer | |
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