# taz.de -- Karlsruher Urteil zu EU-Schulden: Klüger, als das Recht erlaubt | |
> Es ist ein Gebot juristischer Klugheit, bei der Auslegung der EU-Verträge | |
> großzügiger zu sein als bei der Auslegung des Grundgesetzes. | |
Bild: Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts am Dienstag | |
Das Bundesverfassungsgericht [1][akzeptiert, dass die EU Schulden machen | |
darf] – zwar nur für bestimmte Zwecke, befristet und in der Höhe | |
beschränkt. Aber immerhin. Vor einigen Jahren hätte sich niemand vorstellen | |
können, dass Karlsruhe so etwas durchgehen lässt. Die Zeitenwende ist | |
offensichtlich auch am Bundesverfassungsgericht angekommen. Alle müssen | |
alte Gewissheiten beiseitelegen. | |
Welchen Sprung das Verfassungsgericht hier gemacht hat, versteht man | |
schnell, wenn man das Minderheitsvotum von Verfassungsrichter Peter Müller | |
liest, der als Einziger an der alten strengen Karlsruher Linie festhält: | |
Die Verträge sehen keine Kreditaufnahme durch die EU vor, also kann auch | |
ein Mega-Ereignis wie die Coronapandemie hieran nichts ändern. Wer einmal | |
eine Ausnahme zulässt, lädt nur dazu ein, neue Ausnahmen zu erfinden, so | |
Müllers Argumentation. | |
Zwar räumen auch Kritiker des [2][schuldenfinanzierten EU-Corona-Fonds] | |
ein, dass es hierfür gute politische Gründe gebe. Aber wenn etwas | |
vertraglich nicht vorgesehen ist, müssten eben die EU-Verträge geändert | |
werden. Juristisch ist das logisch. | |
Doch wer so argumentiert, macht die EU kaputt. Denn die Hürden für eine | |
Vertragsänderung sind ungleich höher als innerstaatliche Hürden für eine | |
Verfassungsänderung. Das Grundgesetz kann mit Zweidrittelmehrheit in | |
Bundestag und Bundesrat an neue Anforderungen angepasst werden. Einer | |
Änderung der EU-Verträge muss dagegen jeder einzelne der 27 EU-Staaten | |
zustimmen, auch Problemstaaten wie Polen und Ungarn. Vor allem aber sind in | |
vielen EU-Staaten Volksabstimmungen erforderlich, die oft von | |
Populist:innen für ihre Zwecke gekapert werden. | |
Es ist daher ein Gebot juristischer Klugheit, bei der Auslegung der | |
EU-Verträge großzügiger zu sein als bei der Auslegung des Grundgesetzes. | |
Auch die EU muss sich neuen Bedürfnissen anpassen können. Sie ist zwar kein | |
Staat, sondern „nur“ ein Staatenverbund. Aber ohne EU wären die 27 | |
Mitgliedstaaten politisch irrelevant. Die Mehrheit des Zweiten Senats am | |
Bundesverfassungsgericht hat dies wohl erkannt. Sie hat den von allen | |
EU-Staaten mitgetragenen kreditfinanzierten EU-Corona-Fonds deshalb trotz | |
großer juristischer Bedenken nicht beanstandet. | |
Es ist eine Ironie dieses Urteils, dass es ausgerechnet von dem | |
Ex-Politiker Peter Müller abgelehnt wird, obwohl er doch ins | |
Verfassungsgericht gewählt wurde, um dort politisches Denken fruchtbar zu | |
machen. Doch nun argumentiert Müller wie ein stockkonservativer | |
Rechtsprofessor, während die tatsächlichen Professor:innen und | |
ehemaligen Bundesrichter:innen zeigen, dass auch Jurist:innen | |
politisch denken können und manchmal klüger sind, als das Recht erlaubt. | |
7 Dec 2022 | |
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## AUTOREN | |
Christian Rath | |
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