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# taz.de -- Chaos bei Twitter: Neue Plattform gesucht
> Unternehmer Elon Musk legt Twitter in Trümmer. Die Lehre daraus: Für den
> Diskurs im Netz muss ein anderes und nicht kommerzielles Modell her.
Bild: Sterbender Vogel? Logo am Twitter-Büro in New York
Twitter war Teil einer demokratischen Infrastruktur. In einer sich radikal
und rapide verändernden digitalen Öffentlichkeit war Twitter kein Ideal –
aber die Grundlage für das, was man als diskursive Demokratie beschreiben
kann. Der neue [1][Twitter-Chef Elon Musk] zerreibt das nun täglich; er
zerreibt damit auch eine Möglichkeit, Öffentlichkeit und Demokratie im
digitalen Zeitalter wenigstens verhalten progressiv zu gestalten; und so
überraschend wie schockierend ist es, dass nun keine echte Alternative zu
Twitter besteht.
[2][Mastodon], eine Plattform, auf die manche ausweichen, hat eine andere
Ausrichtung und funktioniert nur sehr holprig. Die Dezentralität, die das
eigentliche Gestaltungselement von Mastodon ist, und die auch eine
theoretische Grundlage einer anderen Form von Demokratie sein könnte, wirkt
hier vor allem rückständig und klein. Klar ist: Das Drama um Twitter hat
eine tiefere Dimension und wirft grundsätzliche Fragen nach dem Wesen der
Demokratie im 21. Jahrhundert auf.
Öffentlichkeit hat es immer gegeben, in jeweils historisch verschiedener
Form und Gestalt. Demokratie ist ohne Diskurs nicht zu haben – die Frage
ist, wie er strukturiert ist und wie frei er ist von staatlicher oder, im
Fall von Twitter nun, privater oder privatwirtschaftlicher Kontrolle.
Im antiken Athen gab es die Agora, für eine kleine Menge von Menschen, es
war eine exklusive Demokratie, die heute oft als Ideal gesehen wird, trotz
der offensichtlichen Limitationen – die Einschränkung des Wahlrechts etwa,
keine Frauen, keine Sklaven: Die diskursive Einigung über wesentliche
gesellschaftliche Fragen war das Ziel, die Polis formte sich im
öffentlichen Gespräch.
## Stimme für die Stimmlosen
Die Neuerfindung der Demokratie nach der Französischen Revolution war dann
deutlich agonistischer. Die Parteien begannen, die Politik zu bestimmen,
die Öffentlichkeit strukturierte sich ähnlich – Zeitungen, etwa in
Frankreich, England, den USA, aber auch in Deutschland, waren oft
weltanschaulich geprägt, Medien wurden zu einem Mittel der Politik; oder
umgekehrt, die Politik wurde mediatisiert.
Die digitale Revolution bedeutete hier einen Bruch – die Frage des Besitzes
an den medialen Produktionsmitteln wurde radikal demokratisiert, der
Diskurs wurde geöffnet für viele, die bislang keine Stimme hatten. Es war
eine Machtprobe, die auch die etablierte Form von Politik als wesentliche
öffentliche Interessenvertretung betraf.
Die alte Macht, Verlage, Fernsehsender, aber auch Parteien, Regierungen,
Staaten bis zu autokratischen Regimen, standen einer neuen Macht gegenüber,
die schwer zu definieren war und sich erst nach und nach fand: Da waren
Menschen, [3][die Revolutionen antrieben], da waren Stimmen, die eine
Reichweite bekamen, die größer war als alle traditionellen Medien im
jeweiligen Land zusammen.
Es geriet etwas, buchstäblich, in Bewegung: Seit etwa 2010 war das
Zeitalter der sozialen Medien auch das Zeitalter der sozialen Bewegungen,
vom [4][Arabischen Frühling] 2011 über [5][#MeToo] 2017 bis zu
#[6][BlackLivesMatter] 2013 und vor allem seit 2020 nach dem Tod von George
Floyd.
Man sollte das alles noch mal reflektieren, weil jetzt, wo Twitter so
massiv in der Krise ist, immer wieder zu lesen ist, es sei ja eh alles
schlimm gewesen: In der FAZ etwa wurde Twitter als „fahl glühender
Gruselwurm“ beschrieben, der „in endlosen Threads grunzend durch Hirne und
Herzen weiterwurmt und dabei die Grundsubstanz eines gigantisch-formlosen
Meinungs-Schleimhaufens ausscheidet, der früher oder später jede
Information, jeden Gedanken und jeden geraden Satz unter sich begräbt“.
## Nicht alles ist schlecht
Das ist nur ein Beispiel für eine spätbürgerliche Öffentlichkeit im
Regressionsmodus. Es macht aber wenig Sinn, wenn jetzt die, die immer an
der Seite gestanden haben und nie die eben sehr reale Twitter-Erfahrung als
sich beständig drehender globaler Kiosk der geistigen Auseinandersetzung
gemacht haben, immer wieder abstrafen, was sie nie verstanden haben und nie
verstehen wollten.
Die Probleme von Twitter waren weitgehend bekannt: Sie haben mit der Frage
von Lügen, Propaganda und Desinformation zu tun – sie haben aber vor allem
mit einem Geschäftsmodell zu tun, das die Nutzer*innen in einer
finanziell lukrativen Abhängigkeit hielt, durch Algorithmen etwa, die
bestimmte Inhalte verstärken und nach Suchtkriterien operieren, dem
endlosen Scrollen, sie haben auch mit der Genese als soziales Netzwerk zu
tun.
Aber all das sind Dinge, die man ändern kann – wenn man will. Die
Daten-Ökonomie war und ist falsch konstruiert: Die extraktive Art, also die
Verwendung der Daten zu kapitalistischen Zwecken, ist das eigentliche
Problem der digital organisierten Öffentlichkeit, nicht die Technologie
selbst – die, wie es der Historiker Melvin Kranzberg einmal beschrieben
hat, weder gut noch böse noch neutral ist. Technologie ist das, was wir als
Gesellschaft daraus machen.
Und hier muss das Nachdenken über eine andere Form und Logik der digitalen
Öffentlichkeit beginnen: Was sind die Gegebenheiten und Erfordernisse einer
digitalen Demokratie – wie können sie über eine Plattform wie Twitter oder
eine andere Plattform umgesetzt werden?
In gewisser Weise kann man Musk dafür dankbar sein, dass er die
Kommerzialisierung und auch Radikalisierung von Twitter vorantreibt und
damit die in der Logik der bisherigen Datenökonomie eingebaute Schieflage
deutlich macht: Wer eine öffentliche Sphäre will, die nicht vor allem nach
wirtschaftlichen Kriterien organisiert ist, muss nach Alternativen Ausschau
halten, wie tatsächlich ein „Marktplatz“ im 21. Jahrhundert aussehen
sollte, wie es Elon Musk für Twitter beansprucht.
24 Nov 2022
## LINKS
[1] https://twitter.com/elonmusk?ref_src=twsrc%5Egoogle%7Ctwcamp%5Eserp%7Ctwgr%…
[2] /Twitter-Alternative-Mastodon/!5893407
[3] /Arabische-Revolution-und-soziale-Netzwerke/!5106835
[4] /Zehn-Jahre-Arabischer-Fruehling/!t5007858
[5] /Schwerpunkt-metoo/!t5455381
[6] /Black-Lives-Matter/!t5320244
## AUTOREN
Georg Diez
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